Der Jahreswechsel ist die Zeit für 7-Schritte-Pläne, gute Vorsätze und noch bessere Ratschläge. Ich habe lange überlegt, was ich dir mitgeben möchte – und es ist nur ein einziger Rat, aber der kommt aus tiefer Überzeugung:
Warte nicht darauf, dass du voll im Vertrauen bist.
Schiebe deine Träume nicht auf, bis du keine Angst mehr hast. Bis du sicher bist, dass alles gut wird. Dieser Zeitpunkt wird nie kommen.
Eines der größten Missverständnisse von Selbstverwirklichung ist, dass wir einen perfekt ausgereiften, reinen Traum haben müssten, der der Tiefe unseres Wesens entspringt. Der so klar visualisiert ist, dass alle Zweifel und Sorgen daran abperlen, wie Wasser an einem Lotusblatt. Dass wir alle blockierenden Glaubenssätze voll auflösen könnten und nie wieder von ihnen behelligt werden. Und dann unseren Traum in einem Rutsch zur vollen Entfaltung bringen.
Wir wünschen uns so sehr, dass wir den Weg erstmal frei räumen können von Ungewissheit, Verlust und Trauer – bevor wir ihn betreten.
Aber diesen sorgenfreien Weg gibt es nicht. Und wir werden an dem Versuch eingehen, bevor wir jemals losgegangen sind.
Manchen mag es helfen, aber mir hat Visualisieren, Meditieren und positive Glaubenssätze Aufschreiben nie viel gebracht. Ich kann mir meinen Traum jahrelang vorstellen, die Wand mit Sätzen wie „Ich bin wertvoll!“ zupflastern und angestrengt versuchen, endlich die nervige Angst loszuwerden – und bleibe doch darin gefangen. Der Traum bleibt ein Bild, Mut und Vertrauen bleiben stecken in leeren Worten an der Wand.
Ich glaube, der schöne Traum und der bestärkende Glaubenssatz haben etwas gemeinsam: Um zu deiner Wahrheit zu werden, brauchen sie Erfahrungen. Erfahrungen, die du erst machst, wenn du den Weg betreten hast. Mit deiner Angst. Mit der Unsicherheit, ob der Traum wirklich deiner ist. Vielleicht auch mit dem Gefühl, es nie schaffen zu können. Zu dumm zu sein, zu schwach, zu klein, zu nervig, zu anspruchsvoll, zu verrückt – was auch immer.
Alles, was du brauchst, ist ein Funken „Trotzdem“.
Egal, wie klein und unfähig du dich fühlst: Du hast immer die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen. Und zwar, deinen Blick ein bisschen auszuweiten. Über den Nebel aus Angst und Sorge zu blicken – und das zu sehen, was sonst noch in dir ist. Und weil du meinen Blog liest, bin ich ziemlich sicher:
Da ist zumindest eine kleine Laterne, die immer wieder aufblinkt. Die dich mit ihrem Licht daran erinnert, dass du in diesem Leben etwas entdecken möchtest. Sie weiß, dass auf deinem Weg auch Schmerz liegt. Weggabelungen, an denen du dich verloren fühlst. Hindernisse, die ihr beide meilenweit umwandern müsst. Und immer wieder dicke Nebelschwaden. Aber sie ruft dir zu: „Lass uns trotzdem gehen!“
Es ist deine Sehnsucht und Neugier auf das, was das Leben noch für dich bereit hält.
Sie lässt sich nicht von der Angst beirren, die dich immer wieder einhüllt. Sie leuchtet einfach weiter. Es gibt nur eine Sache, die du tun musst: Dich immer wieder bewusst dafür entscheiden, neben der Angst auch deinen Lebenswillen und deine leuchtende Sehnsucht anzuschauen. Sie trotz allem immer wieder in die Hand zu nehmen, den Weg vor dir zu bescheinen und den nächsten Schritt zu tun. Und den danach.
Schritt für Schritt wird dein Traum sich um dich herum ausbreiten und das Vertrauen in dir wachsen. Bis ein Schritt daneben geht und scheinbar alles zusammenfällt. Dann kommen deine nebligen Begleiter zurück, die Angst, die Scham, die Reue, die Traurigkeit. Aber auch dann hast du eine Entscheidung:
Du versuchst gar nicht erst, etwas zu rechtfertigen oder jemanden zu überzeugen. Du erinnerst dich nur an die Laterne, die vor dir steht. Hebst sie auf und gehst einfach weiter.
Und weil es tröstlich ist, dass die Wege der anderen oft genauso steinig und neblig sind, möchte ich dir meine Geschichte anbieten:
In den Augen mancher Menschen und in meinem eigenen Herzen war ich viele Jahre alles andere als stark und mutig. Ich war Marlene, die Ängstliche. Marlene, die Überempfindliche. Marlene, die Nervige. Marlene, die viel will, sich aber nichts traut. Marlene, die es nicht schaffen wird. Marlene, die zu viel falsch macht. Marlene, die Ungewollte. Und wo ich das so aufschreibe – natürlich auch Marlene, die Selbstmitleidige.
Und weißt du was? Diese schmerzhaften Bewertungen und Begrenzungen sind nie verschwunden.
Sie sind verdrahtet in meinem Gehirn und können jederzeit losfeuern und auf mich einreden, die dunkelsten Wolken produzieren und meine Sicht vernebeln. Ich kann sie weder loswerden, indem ich mir positive Affirmationen an den Spiegel klebe (darüber lachen sie höchstens), noch indem ich ihnen erkläre, dass sie falsch liegen.
Also habe ich beschlossen, sie nicht loszuwerden. Manchmal höre ich ihnen sogar zu. Fühle den Schmerz, der darin liegt. Ich lasse sie reden und versuche nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Und dann beschließe ich, es trotzdem zu machen.
Auszuwandern, obwohl Menschen, die lange prägend und wichtig für mich waren, mir das weder gönnten noch zutrauten. In dem Land zu leben, von dem ich schon vor 25 Jahren geträumt habe. Obwohl ich hier für jeden Arztbesuch bezahlen muss und bei jedem Sturm der Strom ausfällt. Meinen Kindern die Entscheidung zu lassen, ob sie in die Schule gehen oder nicht. Obwohl ich nicht absolut sicher bin, dass das die richtige Entscheidung ist.
Diesen Blogartikel zu veröffentlichen. Obwohl ich immer wieder das Gleiche erzähle. Obwohl jeder meiner Texte eine Welle von Kritik auslösen könnte. Obwohl ich mich extrem verletzlich mache. Ganz ehrlich, als Mutter freilernender Kinder von Selbstzweifeln und Zukunftsangst zu erzählen – das grenzt schon an Wahnsinn.
Ich mach es trotzdem. Weil es gelogen wäre, dass ich immer voll im Vertrauen bin und bei uns alles tippitoppi läuft. Weil es mich glücklich macht, sichtbar zu sein, wie ich wirklich bin. Weil es mir Sinn und Erfüllung gibt, wenn nur ein einziger Mensch darin Trost und Hoffnung findet.
Und weil ich weiß, dass ich mehr bin als meine Angst und meine Trauer.
Weil da auch etwas ist, das ausprobieren und Erfahrungen machen will. Das auch schwierige Erfahrungen entgegen nimmt und sich (anders als die Angst) nicht davon beirren lässt, ob ich scheitern könnte. Weil es nicht darum geht, den perfekten Weg zu gehen, sondern darum, lebendig zu sein. Es versucht zu haben.
Was mir hilft, ist nicht, den Nebel zu verscheuchen. Sondern immer wieder die Laterne aufzuheben und in ihrem Schein den nächsten Schritt zu gehen.
Das klingt jetzt ein bisschen mühsam und vielleicht fragst du dich gerade, wozu ich mir den Stress antue und nicht einfach geblieben bin, wo ich war.
Ganz einfach: Weil es noch anstrengender war, nicht loszugehen. Das Licht in mir immer wieder dimmen zu müssen. Die Stimmen der Selbstabwertung aushalten zu müssen, die lauter wurden, obwohl (oder weil) ich ihnen geglaubt habe. Weil die Sicherheit, in der ich mich wähnte, keine echte Sicherheit war, sondern eine Menge Gift enthielt.
Und weil auf meinem Weg nicht nur Fehltritte und Ernüchterung liegen, sondern auch neue Erfahrungen von Glück und Lebensfreude. Kleine und große Wunder, die mein Vertrauen mehr stärken als jede gut gemeinte Affirmation.
Jede entspannte, fröhliche Stunde mit meiner Familie, jedes gemütliche Frühstück, jeder Ausflug an die irische Westküste, jeder schöne Nachmittag bei unseren Freunden und jedes Konzert mit unserer Musikgruppe zeigen mir: In meinem Leben gibt es noch viel mehr als Angst und Zweifel.