„Reist und unternehmt so viel ihr könnt, solange eure Kinder klein sind. Spätestens wenn das Erste 6 Jahre alt wird, ist euer Leben erstmal vorbei. Dann gibt es eigentlich nur noch Schule.“
Hast du das auch schon gehört? Oder selbst gedacht? Mir ist dieser Gedanke unzählige Male begegnet. Und leider ist viel Wahres daran.
In Deutschland beginnt für alle jungen Menschen mit 6 Jahren die Schulpflicht – und damit ein extrem durchstrukturierter, fremdbestimmter Alltag für die ganze Familie.
Für einige mag das kein Problem sein, weil sie diesen Alltag mögen. Für andere beginnt damit ein jahrelanger Kampf. Ein Leidensdruck, der heftiger ist als: „Es ruckelt mal kurz und dann klappt das schon.“
Vielleicht wollt ihr außerhalb der überlaufenen Ferienzeiten mit euren Kindern reisen und neue Orte kennenlernen? Egal. Das frühe Aufstehen und stundenlange Funktionieren in der Schule belastet euer Kind enorm und ihr habt kaum noch entspannte, glückliche oder verspielte Momente zusammen? Egal. Eurer Kind leidet unter Leistungsdruck oder Mobbing und so angestrengt ihr auch versucht, eine Lösung zu finden – eigentlich steht ihr nur hilflos daneben und es ändert sich nichts? Egal.
Dass mit der Schulpflicht für junge Menschen und ihre Familien massive Einschränkungen (z.B. der Bewegungsfreiheit, aber auch der Gesundheit) einhergehen, ist wie ein riesiger blinder Fleck auf der Landkarte des kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins.
Es wird einfach hingenommen. Weil is’ ja Schulpflicht.
Familien, die diese Einschränkungen weder aushalten noch in Konflikt mit dem Schulamt geraten wollen, haben nur eine Möglichkeit: Auswandern.
Doch dieser Schritt braucht Zeit und Vorbereitung, denn eigentlich ist es ein Weg aus vielen kleinen und großen Schritten. Und das Erste, was den meisten Eltern dabei begegnet, sind 1000 Fragen und Stolpersteine – von der Auflösung des Haushalts über die Krankenversicherung bis zum Gespräch mit der Schule.
Jeder dieser Bereiche braucht im Grunde individuelle Beratung, denn jede Familie hat auch ihre eigene komplexe Situation.
Außerdem glaube ich, dass unter den organisatorischen Fragen meist auf einer tieferen Ebene Zweifel warten, die selten ausgesprochen werden, aber wichtig für den Verlauf und das Erleben der Auswanderung sind. Doch dazu später.
Zuerst beantworte ich 3 häufige Fragen, die mir zum Thema Schulpflicht und Abmeldung gestellt werden.
Auch hier gilt: Die rechtliche Situation ist nicht nur von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, sondern wird auch von Mensch zu Mensch verschieden ausgelegt und gehandhabt. Deshalb kann ich nur sehr allgemeine Aussagen machen, die keine anwaltliche Beratung ersetzen und für individuelle Entscheidungen immer genau überprüft werden sollten.
1. Entfällt die Schulpflicht, sobald die Kinder abgemeldet sind?
Nein, nicht automatisch. Diese Regelung wird in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer unterschiedlich formuliert, aber üblicherweise ist die Schulpflicht nicht nur an den offiziellen Meldesitz geknüpft, sondern daran, wo sich der junge Mensch tatsächlich aufhält. Wird er offiziell abgemeldet, hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt aber weiterhin in Deutschland (egal an welchem Ort), dann bleibt er schulpflichtig. Da grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass Kinder bei ihren Eltern leben, macht es also im Normalfall wenig Sinn, nur die Kinder abzumelden, während die Eltern ihren Wohnsitz noch in Deutschland haben.
Grundsätzlich gilt also: Die deutsche Schulpflicht entfällt dann, wenn der junge Mensch mit mindestens einem Elternteil von seinem Wohnsitz in Deutschland abgemeldet ist UND seinen gewöhnlichen Aufenthalt tatsächlich außerhalb Deutschlands hat.
2. Können wir uns innerhalb Deutschlands als „reisend“ melden?
Soweit ich weiß, gibt es melderechtlich keinen ausgewiesenen Status als „reisend“. Wer keinen festen Wohnsitz in Deutschland hat, wird lediglich abgemeldet. Sobald ihr aus eurer Wohnung auszieht und keine neue Wohnung im Inland bezieht, meldet ihr dies dem zuständigen Amt und bekommt dann eine offizielle Abmeldebestätigung mit Angabe der Adresse eures letzten Wohnsitzes.
Wichtig: Wenn ihr dann weiterhin in Deutschland bleibt, also z.B. mit dem Wohnmobil innerhalb Deutschlands von Ort zu Ort reist, bleibt euer Kind weiterhin schulpflichtig. Denn wie gesagt: Die Schulpflicht endet erst, wenn ihr euren gewöhnlichen Aufenthalt tatsächlich im Ausland habt – egal ob reisend oder nicht.
3. Die Schule verlangt einen Nachweis über den Schulbesuch im Ausland. Was machen wir jetzt?
Zu diesem Thema habe ich bereits eine ganze Podcast-Folge aufgenommen. Grundsätzlich ist es so: Die deutsche Schulpflicht endet, sobald euer gewöhnlicher Aufenthalt nicht mehr in Deutschland ist – daher darf und sollte von euch auch kein Nachweis über Beschulung im Ausland verlangt werden.
In besonderen Fällen – wenn z.B. ein Elternteil in Deutschland bleibt – kann es nötig sein nachzuweisen, dass das Kind tatsächlich seinen Lebensmittelpunkt im Ausland hat. Wenn ihr euch aber als komplette Familie abmeldet und Deutschland dauerhaft verlasst, gibt es im Normalfall keine rechtliche Grundlage für Schule oder Behörde, eine Schulbescheinigung aus dem Ausland von euch zu verlangen.
Leider kommt es dennoch immer wieder dazu, dass Schulleitungen oder Behördenmitarbeiter*innen solche Forderungen stellen und Eltern damit massiv verunsichern und unter Druck setzen.
Deine Möglichkeiten reichen hier von einfach ignorieren, Abmeldebestätigung einreichen und gehen bis zu ankündigen, dass du etwas Entsprechendes aus dem Ausland nachreichen wirst – und hängen sehr von eurer persönlichen Situation und deinem Naturell ab. Wenn du unsicher bist, was in eurer Situation zulässig ist, lass dich am besten anwaltlich beraten.
Und nun komme ich auf etwas anderes zu sprechen: Hinter all diesen rechtlichen Details und Fragen, die unseren Verstand rotieren lassen, gibt es etwas, das unsere Herzen belastet. So sehr, dass auch der Verstand kaum Ruhe finden kann. Und das ist die unausgesprochene Frage:
Dürfen wir das?
Viele Eltern haben noch keine Worte dafür, sind aber geplagt von einem ständigen, nagenden und zermürbenden Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Für verkehrt und böse gehalten zu werden.
Rein objektiv gesehen ist überhaupt nichts Verbotenes daran, Deutschland zu verlassen und an einem Ort zu leben, an dem wir glücklicher sind. Es ist auch nichts Verbotenes daran, die Schulpflicht für falsch und schädlich zu halten. Nicht einmal, sie öffentlich zu kritisieren! Ansonsten würde es kaum SWR-Beiträge wie diesen geben: Schafft die Schulpflicht ab!
Und nein, natürlich ist es auch nicht verboten, in ein Land auszuwandern, das eure Kinder nicht zur Schule zwingt.
Trotzdem fühlt es sich oft anders an. Bedrohlich. Beängstigend. Ich erhalte immer wieder Nachrichten von Eltern, die während der Vorbereitung auf die Auswanderung wie aus dem Nichts Panikattacken bekommen. Als würde ihnen mit dem Entschluss die Existenzberechtigung entzogen.
Falls es dir auch so geht, will ich dir zuerst sagen: Mit dir ist nichts falsch und du bist auch nicht verrückt.
Wenn ich in Facebook-Gruppen lese, dass Menschen erstmal angstfrei werden müssten, um ihren Weg zu gehen, macht mich das nachdenklich. Denn das gibt vielen Eltern das Gefühl, es nicht schaffen zu können. Oder sogar Schuld an ihrer Situation zu sein. Zu schwach. Nicht locker genug. Dabei hat ihre Furcht nichts mit persönlichem Versagen zu tun.
Natürlich haben wir Angst.
Wir fürchten uns nicht, weil wir doof sind, sondern weil wir bedroht werden. Unterschwellig oder ganz direkt. Wie ich das selbst erlebt habe, kannst du in meinem Artikel Der muss doch was lernen lesen.
Wir müssen nicht so tun, als würden wir total cool über diesen Angriffen stehen. Über den Einschüchterungsversuchen eines Systems, das auf Machtausübung und Strafe gebaut ist. Und wie immer füge ich hinzu: Nicht, weil jemand einen dunklen Plan verfolgt, sondern weil wir kollektiv traumatisiert sind. Ja, ich benutze jetzt bewusst dieses große Wort.
Wir alle haben in den Strukturen von traditioneller Erziehung und Schule in irgendeiner Form gelitten (auch die, die jetzt Macht ausüben). Und wir können getrost aufhören, uns vorzumachen, es ginge nur um ein bisschen Mindset-Korrektur. Wir dürfen den Schmerz und die Verletzung fühlen, die uns über Jahre zugefügt wurden.
Aber es gibt Wege, uns von der Angst nicht lähmen zu lassen.
Über die Jahre habe ich gelernt: Das, was uns am meisten hilft, ist die Verbindung zu wohlwollenden Menschen. Menschen, die unseren Schmerz und unsere Angst anerkennen – und gleichzeitig unsere Stärke sehen. Menschen, in deren Augen wir und unsere Träume wertvoll sind.
Begleitung von solchen Menschen – und wenn es nur wenige sind – kann das Gefühl von Gefahr und Bedrohung soweit mildern, dass wir trotz Furcht mutige Schritte tun können.
Wie heilsam es sein kann, wenn andere unsere Erfahrung anerkennen, erlebe ich auch Jahre nach unserer Auswanderung immer wieder. Letzte Woche wurde ich für eine lokale irische Zeitschrift zu unserer Geschichte interviewt. Und während ich von den deutschen Bestimmungen erzählte und wie uns am Ende nur der Ausweg blieb, alles aufzugeben und zu gehen, wurde das Gesicht meiner Interviewerin immer betretener. (Fun fact am Rande: Sie arbeitet selbst für die irische Bildungsbehörde.)
Ihre erste Frage war: „Was, glaubst du, sind die Gründe dafür, dass Deutschland so starr an der Schulpflicht festhält und keine anderen Bildungswege für Familien zulässt? Als freies, demokratisches Land?“ Und nachdem wir eine Weile weiter gesprochen hatten, sagte sie nur: „Ihr seid geflüchtet.“
Ich erklärte sofort, dass ich es anmaßend finde, unsere Situation mit der von Geflüchteten zu vergleichen. Wir sind nicht vor Waffengewalt, Hungersnot oder Naturkatastrophen geflohen. Wir hatten zu jeder Zeit Geld auf dem Konto, Essen im Kühlschrank und einen sicheren Schlafplatz. Das ist und bleibt ein gewaltiger Unterschied.
Sie schwieg. Überlegte. Stimmte mir zu. Überlegte länger und sagte: „And yet…“. Und dennoch. Sie verstand, dass ich uns nicht mit Menschen vergleichen wollte, die aus Kriegsgebieten fliehen. Gleichzeitig erkannte sie die Not an, in der wir gegangen waren. Eine Not, die sich existenziell anfühlte, obwohl wir nicht wirklich existenziell bedroht waren.
Dieser kurze Moment, diese wenigen Worte waren – wie viele andere zuvor – eine korrigierende Erfahrung. Der Blick eines Menschen, der uns keine niederen Beweggründe, Dummheit oder kriminelle Absichten unterstellte. Der anerkannte, dass wir unseren menschlichen Werten treu geblieben waren und die bestmögliche Entscheidung getroffen hatten. Obwohl wir strukturelle Gewalt, Bedrohung und schmerzhaften Verlust erfuhren. Das war heilsam für den Teil in mir, der noch immer Angst vor Bestrafung hat.
Die rechtlichen und organisatorischen Informationen zum Thema Schulpflicht und Auswanderung können wir uns in Zeiten von ChatGPT immer schneller beschaffen.