Authentizität und Scham

Authentisch sein – auch wenn du dich schämst

Manche Menschen sind in ihrem alltäglichen Leben stark darauf ausgerichtet, was die anderen von ihnen halten. Sie schämen sich schnell und oft für die banalsten Dinge – wie versehentlich den Nachbarn nicht gegrüßt zu haben. (Jetzt hält er mich sicher für einen ignoranten Kackstiefel!)

Um dieses belastende Gefühl zu umgehen, spielen sie häufig eine Rolle, die zu dem passt, was die anderen (vermeintlich) gut finden. 

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, denen ziemlich schnurz ist, was das Umfeld denkt. Die in ihrem Auftreten und Handeln sehr authentisch sind. Für sie wäre es undenkbar, sich für andere zu verbiegen. 

Für eine dritte Gruppe ist es komplizierter.

Ich z.B. schäme mich oft und viel – und gleichzeitig fällt es mir wahnsinnig schwer, eine Rolle zu spielen. Ich kann ausgesprochen schlecht lügen oder etwas nach außen vorgeben, das nicht meiner Innenwelt und meinen Werten entspricht. Es erzeugt in mir genauso großen Stress wie die Scham darüber, was andere von mir halten (könnten). Deshalb laufe ich meistens durch mein Leben wie ein offenes Buch. Trotz all der beißenden Literaturkritik da draußen. 

Auf den ersten Blick klingt das ultra anstrengend. 

Und ja, manchmal ist es wirklich höllisch unbequem. Aber inzwischen habe ich diese scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften an mir lieben gelernt und möchte sie nicht mehr hergeben. Denn sie liefern mir ständig großartige Wachstumschancen

Wenn du die Zerrissenheit zwischen großer Scham und dem starken Bedürfnis nach Echtheit kennst – dann sei dir sicher: Das ist kein Grund, dich noch mehr zu schämen oder gar beschädigt und unvollständig zu fühlen. Im Gegenteil:

In dir liegt ein riesiger Schatz. 

Wenn du beginnst, ihn auszugraben und bewusst in dein Leben und deine Beziehungen zu integrieren, dann wirst du den ganzen Reichtum erkennen, der in dir liegt: 

Stärke, Mut, Verletzlichkeit, Milde, Mitgefühl und eine tiefe Ruhe, die du unter dem Chaos der Zerrissenheit vielleicht nicht erwartet hast. 

Was meine ich damit?

Ich beginne mal von vorne. Dort, wo es unangenehm ist. Scham ist eng verwandt mit Angst – ein beklemmendes und bedrückendes Gefühl. Sie äußert sich z.B. darin, dass wir nach Gesprächen ewig grübeln, ob wir etwas Falsches gesagt oder getan haben könnten. 

Dass wir minimale Zeichen der Ablehnung in unserem Gegenüber lesen – oder eben auch missinterpretieren. (Vielleicht ist der genervte Blick des anderen nur Ausdruck seiner Müdigkeit und nicht seiner Ablehnung uns gegenüber.) 

Dass wir uns (zu) oft zurücknehmen oder über unsere Grenzen gehen, um bei den anderen ja keinen Unmut aufkommen zu lassen. 

Wenn du gleichzeitig ein großes Bedürfnis nach Authentizität hast, kann das Schamgefühl sehr kräftezehrend sein.

Die Selbstbegrenzung und das ständige Kreisen um die Wahrnehmung der anderen verbrauchen so viel Energie, dass du nach jedem Gespräch mit der Nachbarin oder dem Klassenlehrer deines Kindes genauso erschöpft bist, als hättest du einen mittelhohen Berg bestiegen. 

Wenn die Mutter des besten Kindergartenfreundes dir von ihren aufwändigen Geburtstagsvorbereitungen erzählt und du ihr anerkennend zunickst, verbal applaudierst und in vorauseilender Hilfsbereitschaft anbietest, die 3. Torte mitzubringen und während der Feier ein Auge auf die Kinder zu haben, während gleichzeitig eine laute Stimme in dir ruft: 

Ich hasse Kindergeburtstage! Ich will das nicht machen!

Oder diese Elternabende, bei denen mal wieder der Belohnungs- (und Bestrafungs-) Plan zum Einhalten der Schulordnung durchgegangen wird. Dein freundliches Lächeln erstarrt, während der echte Teil in dir ruft:

Was zum Teufel tu ich hier eigentlich? Den ganzen Scheiß könnten wir uns sparen und mal ehrlich darüber sprechen, warum Belohnungssysteme nicht funktionieren! Und wenn sie es tun, dann nicht so, wie wir es wollen. 

Aber du sagst es nicht. Weil du Angst vor den Reaktionen der anderen hast (die es vielleicht eben doch genau so wollen, mit Belohnung und Bestraftung). Vor der Ablehnung und Verurteilung der anderen – und der Scham, die dann folgt.  

Je weniger du von dir Preis gibst und je länger du dich hinter deiner Fassade versteckst, desto lauter wird die protestierende Stimme in dir. Und je lauter die Stimme in dir, desto größer die Angst vor dem Anecken. 

Was dir in dieser Situation bleibt, ist Einsamkeit

Das Gefühl, mit deiner Echtheit nicht landen zu können. Unverbunden zu sein, weil niemand dein wahres Wesen kennt. Nicht mal dir selbst trauen zu können, weil du dein Bedürfnis nicht wirklich ernst nimmst. 

Die gute Nachricht ist: So muss es nicht bleiben. Es gibt auch für Menschen wie uns einen Weg, authentisch zu sein und mit der Welt in Resonanz zu gehen. 

Und damit meine ich nicht, von nun an bei jedem Elternabend auf den Tisch zu hauen und herauszupoltern, wie abartig scheiße du alles findest. Der anderen Mutter vor den Latz zu knallen, dass Geburtstagsfeiern sowieso unsinnig sind und sie sich mal vom kommerziellen Mainstream verabschieden sollte. 

Wenn der Groll aus uns schreit, weil wir uns zu lange selbst nicht ernst genommen haben, tut er uns keinen Gefallen. 

Die anderen tragen dafür keine Verantwortung. Und alles was folgt, ist die nächste unerträgliche Welle von Scham. Noch mehr Trennung, noch mehr Einsamkeit. 

Der Weg, den ich meine, ist sanfter – und gleichzeitig stärker. Vielleicht helfen dir dabei die folgenden Schritte:

1. Nimm deine ehrliche Stimme ernst.  

Hör ihr liebevoll und mitfühlend zu. Gibt dir selbst ein Versprechen, dass deine Echtheit von nun an einen sicheren Ort in dir hat. Auch, wenn die Umstände gerade schwierig sind und du noch nicht weißt, wann und wieviel du davon nach außen preisgeben wirst. 

2. Gib auch der Scham einen Platz. 

Versuche nicht, Angst und Scham auszuschalten. Vermutlich möchtest du diese unangenehmen, schmerzhaften Gefühle loswerden – und das ist mehr als verständlich. Aber weder Angst noch Scham lassen sich einfach wegdrücken. Und im Grunde möchten sie dich nur beschützen. Auch sie wollen, dass du in Verbindung mit anderen bleibst. 

Wenn dich das nächste Mal Scham überrollt, registriere einfach, dass sie da ist. Wo und wie du sie im Körper spürst. Wenn du ihr einen Platz gibst, neben all den anderen Empfindungen und Bedürfnissen, dann wird sie dich nicht mehr so stark kontrollieren. 

Ich habe inzwischen einen neuen Namen für Angst und Scham gefunden, mit dem ich sie liebevoller Betrachten kann: Verletzlichkeit.

Wenn wir uns anderen Menschen mit unserem ehrlichen Wesen öffnen, dann machen wir uns verletzlich. Wir setzen uns dem Risiko aus, verurteilt und abgelehnt zu werden. Aber ohne menschliche, lebendige Verbindungen wäre unser Leben eine öde, graue Wüste. Und auch, wenn tatsächlich Ablehnung zurückkommt, muss dich das nicht treffen wie ein beschämende Strafe. Es macht dich nicht wirklich klein und schwach. Mehr dazu später. 

3. Respektiere die Haltung der anderen.

Du musst die Meinung und Taten der anderen nicht teilen oder gutheißen. Aber so, wie du dir selbst wohlwollend begegnest, kannst du auch den anderen gegenüber treten. Du musst sie nicht hassen, um einen anderen Weg zu wählen. Wenn du aufhörst, gegen die anderen und ihre Überzeugungen zu kämpfen, wenn du vielleicht sogar Mitgefühl empfindest – dann hast du viel mehr Energie übrig, deinen eigenen Weg zu erkunden.

4. Triff bewusste Entscheidungen.

Dabei kannst du alles einbeziehen. Deine authentische Stimme, deine Verletzlichkeit, die äußeren Umstände. 

Vielleicht backst du für den Kindergeburtstag einen einfachen Kuchen und ziehst dich für den Rest des Tages mit Kakao und deinem Lieblingspodcast in eine gemütliche Ecke zurück. Beim Elternabend hörst du bewusst in dich hinein und erlaubst deinem Gesicht auszudrücken, was du fühlst. Vielleicht wird es keiner bemerken. Vielleicht wirst du aber auch darauf angesprochen und kannst dann ein paar Worte dazu sagen, was du wirklich denkst. 

Für mich war eine dieser Entscheidungen, einem Lehrer zu sagen (und es auch so zu meinen): „Ich verstehe und respektiere, dass Schule für Sie oberste Priorität hat. Für uns sind andere Dinge wichtiger.“

Heutzutage würde ich im Schulkontext vermutlich noch offener mit meiner Haltung umgehen und sagen: „Ich würde meinem Kind gern ein Leben ohne Schule ermöglichen, aber die Schulpflicht erlaubt mir das hier leider nicht.“ Damit wäre klar, dass ich in diesen Gesprächen nicht freiwillig sitze und ein großer Teil der versteckenden Fassade wäre gar nicht mehr nötig. 

Wenn du dir selbst und den anderen gegenüber ehrlich und wertschätzend begegnest, lässt du Raum für Lösungen und Kompromisse. Du gehst eine Verbindung ein, die vom Gegenüber mitgestaltet werden kann, der du aber nicht ohnmächtig ausgeliefert bist. Selbst, wenn die anderen dich nicht verstehen oder sogar angreifen – wirklich beschämen können sie dich dann nicht mehr. 

Glücklicherweise muss ich keine erzwungenen Schulgespräche mehr führen, denn meine Lebensumstände haben eine weitere Entscheidung zugelassen: In ein Land auszuwandern, in dem das Gesetz uns ein Leben mit oder ohne Schulbesuch erlaubt.

Bewusste, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen kann auch bedeuten, dich aus Strukturen zu verabschieden, die dir und deiner Familie nicht gut tun. Im Großen wie im Kleinen. 

5. Suche dir wertschätzende Begleitung und Unterstützung.

All diese inneren und äußeren Prozesse sind nicht von heute auf morgen gelernt und umgesetzt. Es ist ein bisschen wir Laufen lernen: Du probierst einen Schritt, fällst auf die Nase, erlebst Entäuschung, Schmerz, Hoffung. Rappelst dich wieder auf und tust den nächsten Schritt. 

Das erfordert Mut. Und ich bin mir sicher, dass du ihn hast. Aber wir sollten Mut nicht damit verwechseln, dass wir alles alleine schaffen können und müssen. Wir haben ein so großes Bedürfnis nach Verbindung, weil sie für uns Menschen die wichtigste Quelle von Heilung und Wachstum ist – zumindest, wenn wir dabei authentisch bleiben können. 

Der Reichtum, der in dir liegt

Wenn wir uns zugestehen, trotz Scham und Verletzlichkeit wir selbst zu sein – ohne in den Groll zu kippen und die anderen dabei zu verurteilen – dann können wir ein tiefes Gefühl von Verbundenheit mit uns selbst und der Welt erleben. Auch da, wo wir unterschiedliche Wege gehen. 

Wo wir vorher zerissen waren, getrennt von uns und den anderen, passt plötzlich alles zusammen. Alles hat seinen Platz. Wir müssen nicht erst lernen, super gelassen und sicher zu sein, bevor wir uns auf den Weg machen. Wir müssen unsere zerbrechlichen, ängstlichen Anteile nicht in den Keller sperren, um mutig zu sein. All die unbequemen Widersprüche machen Sinn und fügen sich zu einem vollständigen Bild.

Wir können uns verbinden, weil wir frei und stark sind. Und wir sind stark, weil wir zart und verletzlich bleiben. 

Wenn du dich auf deinem Weg von mir begleiten lassen möchtest, kannst du verschiedenes tun – je nachdem, wie viel und wie enge Begleitung du dir wünschst:

  • Abonniere meinen Podcast Stark und Verletzlich.
  • Trag dich auf meinen Newsletter ein. 
  • Schreib mir eine kurze (oder auch längere) Email an info@sajuno.de und ich schicke dir den Anmeldelink für ein kostenfreies Kennenlerngespräch. Dort besprechen wir gemeinsam, in welchem Rahmen ich dich persönlich begleiten kann. Ich freu mich auf dich!

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