Bevor wir Deutschland verließen, war über viele Jahre die Sehnsucht nach einem Leben gewachsen, das irgendwie anders sein sollte. Wir fühlten uns eingeengt, gestresst, ständig beobachtet und träumten davon, unser Leben wirklich selbst gestalten zu können.
Wir wollten nicht nur am Wochenende ausschlafen und gemütlich zusammen frühstücken, wir wollten das immer. Wir wollten die Kinder nicht nach ein oder zwei Stunden beim Spielen unterbrechen, um uns alle durch nervtötende Hausaufgaben zu quälen. Wir wollten uns jederzeit frei bewegen und reisen dürfen.
Stattdessen waren wir in einem Programm gefangen, das andere Leute sich für uns ausgedacht hatten, und spürten deutlich: Wir wollten da raus.
Klingt nach aussteigen, oder? Da ist was dran, denn es ging darum, etwas abzustreifen, uns zu befreien, auszusteigen aus einer Struktur, die uns die Luft zum Atmen nahm. Das Bedürfnis, all den fremden Erwartungen zu entkommen, die erbarmungslos und laut an jeder Ecke unseres Alltags nach Erfüllung brüllten, war phasenweise so stark, dass wir manchmal tatsächlich von der einsamen Waldhütte träumten.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn eigentlich wollten wir uns mit der Welt verbinden.
Um ehrlich zu sein, wäre uns die Waldhütte auf Dauer sehr langweilig geworden.
Es stimmt, wir lieben einsame verwunschenen Wanderwege und jahrhundertealte verlassene Burgen – und gleichzeitig suchen wir den Kontakt zu anderen Menschen, wo immer wir sind. Wir machen Musik und Sport im Verein, besuchen Konzerte (meistens die ohne Eintritt), Museen und arabische Hochzeiten. Zugegeben, bei letzterem hat vor allem der Rest der Familie Spaß, während ich versuche, mich zu verkrümeln und meine armen Ohren in Sicherheit zu bringen.
Unsere Freund*innen kommen aus allen möglichen Regionen der Welt, sprechen mindestens 10 verschiedene Sprachen, haben unterschiedlichste Hintergründe, Religionen und Weltanschauungen. Was uns alle verbindet, ist menschliche Wärme, der Wunsch nach Gemeinschaft und einem Platz in dieser Welt.
Dabei ist es kein besonders ausgefallener Lebensstil, der uns anzieht. Wie alle anderen gucken wir unsere Lieblingsserien, gehen manchmal ins Schwimmbad oder indisch essen. Wir verbringen Zeit mit unseren Nachbarn, bei einem Kaffee auf dem Sofa oder in der Abendsonne vor dem Haus. Stundenlang. Ohne schlechtes Gewissen, weil zum Glück keine 100 Aufgaben mehr warten, um die wir nie gebeten haben.
An Halloween ziehen wir verkleidet um die Häuser und sammeln Süßigkeiten, an Weihnachten ziehen wir um die Häuser und verteilen Kekse. Wir checken die Nachrichten, weil wir wissen wollen, was in der Welt passiert. Unsere Impfpässe sind knallvoll.
In vielen Lebensbereichen sind wir die mainstreamigsten Normalos, die du dir vorstellen kannst.
Wir wollen dazugehören, ein Teil der Gemeinschaft sein, verbunden mit dem Leben um uns herum. Mal im Wald und mal auf der arabischen Hochzeit. Dabei wollen wir nur wir selbst bleiben, in unserem Tempo leben, mit all unseren besonderen und stinknormalen Interessen.
Lange haben wir uns gewünscht, dieses Leben in Deutschland zu führen – aber da war immer das Programm, das uns vorschrieb, was stattdessen zu tun sei. Ein Programm, das ständig irgendwo knirschte.
Wir waren beschäftigt damit, vollkommen unnötige Konflikte zu lösen und Energie in das Aushalten von Situationen zu pumpen, die wir uns nie ausgesucht hatten. Kämpfe zu führen, die nicht unsere waren. Im Nachhinein sehe ich noch klarer, wie viel Reibungsverlust dieses Leben hatte und wie herausgerissen wir waren aus unserer eigenen Lebendigkeit.
Unser Alltag bestand aus Trennung: von uns selbst und der Welt, die wir so gerne erforschen und genießen wollten.
Ja, wir wollten aus einem Programm aussteigen, aber nicht aus der Gesellschaft. Im Gegenteil: Wir wollten einsteigen in all die intensiven und lebendigen Begegnungen, die möglich wurden, als wir unsere Zeit nicht mehr in stressgeladenen Klassenzimmern und Elternabend-Maskeraden absitzen mussten.
Als ich meinen Sohn vor ein paar Wochen zu seiner Bandprobe begleitete, sagte er aus vollem Herzen: „Ich bin froh, dass es diese Gruppe gibt, die Musik genauso liebt wie ich, und dass wir all den anderen Menschen so viel Freude damit machen.“ So etwas habe ich nie auf dem Weg zur Schule gehört.
Nein, wir sind keine Aussteiger. Wir sind Einsteiger, weil wir immer dorthin wollen, wo es echte Verbindung und lebendige Freude gibt.
Menschen wie wir sollten äußern können, dass sie sich unwohl fühlen – ja, dass ihnen das gewaltvolle Durchsetzen der Schulpflicht die Luft zum Atmen nimmt – ohne dabei für durchgeknallte Spinner oder radikale Systemaussteiger gehalten zu werden.
Denn je stärker der Druck durch solche Zuschreibungen ist, desto größer wird das Bedürfnis, tatsächlich in die Waldhütte zu gehen und „das System“ als Ganzes abzulehnen. Gäbe es legale Möglichkeiten für andere Bildungswege und Familienalltage, wäre da ein Platz in dieser Gesellschaft – auch für die Menschen, die weniger privilegiert sind als wir – , dann könnten alle mehr genießen, ein Teil davon zu sein. Davon bin ich überzeugt.
Und wie so oft schreibe ich das mit Dankbarkeit und Schmerz. Dankbarkeit darüber, dass wir vieles von dem gefunden haben, was wir suchten. Schmerz darüber, dass wir in meiner Heimat keine Chance bekommen haben und nicht dazugehören durften, weil dort das Pflichtprogramm der Preis ist für den Platz in der Welt.