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Gerade eben sind meine Kinder aus der Tür gehüpft – bepackt mit Bogen, Fernrohr und einer großen Tüte Proviant. In ihre Schatzkarte hatten sie eingezeichnet, was sie draußen alles finden und erleben würden: Wirbelstürme, Seeungeheuer, Riesengebirge und natürlich den Schatz. Die Augen leuchteten vor Begeisterung und mein Jüngster hopste und redete ohne Pause, so sehr vibrierte die Vorfreude in seinem kleinen Körper.

Durchs Küchenfenster sah ich sie davon stürmen und erinnerte mich an all die phantastischen Abenteuer, die ich als kleines Kind erlebt hatte – und an die 1000 Stunden, die ich später in grauen Klassenzimmern absaß und mich zurück träumte. 

Als junger Mensch habe ich nie verstanden, warum binomische Formeln wichtiger sein sollten als Mittelerde. Trotzdem lernte ich schnell, mich diesem Glaubenssatz zu fügen. 

Noch als 9jährige streifte ich nachmittagelang mit einer Freundin durch imaginäre Urwälder, Wüsten und Eisschlösser. Aus jeder Pfütze konnte ein blubbernder Hexenkessel werden, aus jeder Treppe eine Gebirgsschlucht – unsere Vorstellungskraft zauberte uns in wunderschöne, aufregende Welten und wir verbrachten darin die glücklichsten Stunden unserer Kindheit.

Aber die Zeitfenster für solche Abenteuer wurden immer kleiner und Ende der 4. Klasse kam der Moment, in dem mir endgültig klar wurde, dass in der „realen Welt“ andere Regeln herrschten. Ich hatte eine 5 in Mathe wiederbekommen und der Hagelschauer aus Lachsalven und Schadenfreude, der im Klassenzimmer auf mich niederprasselte, brannte sich als schmerzhafte Lektion in mein kleines System: Du wirst niemals wirklich dazugehören und immer in Gefahr sein, wenn du nicht tust, was von dir erwartet wird – egal, wie sehr du etwas anderes willst. 

Also begann ich, mich selbst zu erziehen. 

Immer wieder und immer öfter zwang ich mich, verbissen für die nächste Mathe-, Physik-, oder Englischarbeit zu büffeln (dass mir das später genauso zum Verhängnis wurde, ist eine andere Geschichte) – obwohl alles in mir weg wollte. Weg aus diesen stickigen, lauten Räumen voll gestresster Menschen, die jeden Moment explodieren konnten. Weg von den Büchern, in denen die Sprache gefangen gehalten wurde, aus denen alles Phantastische und jede Leichtigkeit herausgepresst worden war. 

Ich sehnte mich nach Geschichten aus anderen Welten, in die ich mich fallen lassen konnte, ohne dass sie eine Analyse oder Zusammenfassung von mir wollten. Ich sehnte mich nach meinem geliebten Wald, der sich zu allem verwandelte, wenn ich meiner Vorstellungskraft freien Lauf ließ. 

Doch alles, was nicht „real“ war oder zumindest irgendeinen messbaren Zweck erfüllte, galt als zweitrangig, das durfte in diese kleine Ecke in meinem Leben, die den Namen „Freizeit“ trug. Im echten Leben regierten andere Prinzipien, dort hatten weder der Wald noch meine Fantasybücher viel zu suchen.

Jedes Mal, wenn die Freizeit aufgebraucht war, fühlte ich Schmerz darüber, zurückkehren zu müssen in eine Welt, die nicht meine war. Zurück zu den Zielen, die mir solange als wichtig verkauft wurden, bis ich selbst daran glaubte. Zurück zu den toten Worten, die ich mir in den Kopf hämmerte, Abend für Abend – weil ich Angst hatte, abgehängt zu werden. Und weil ich mich schämte, fliehen zu wollen.

Irgendwann bekam ich einen unheilvollen Namen für das, was mit mir falsch war: Eskapismus, Realitätsflucht. 

Doch so bedrohlich das Wort auch über mir schwebte und mit allen Mitteln der Abwertung gegen die unvernünftigen Träume ankämpfte  – es konnte nicht verhindern, dass ich immer wieder hinüberflog in andere Welten voller Elben, Drachen, Feen und Magie. Welten, in denen ich meine Ziele und Abenteuer selbst erfinden konnte, ohne dass jemand mit dem Rotstift ihre Qualität beurteilte.

Heute glaube ich, dass diese innere Welt mich gerettet hat. Sie war ein Schutzraum, in dem ich bleiben konnte, wer ich wirklich war. 

Während ich in der äußeren Realität ständig aufpassen musste, nicht daneben zu treten und keine Fehler zu machen, gab es in mir einen Ort, an dem meine Quelle von Kreativität und Freude weiter sprudeln konnte. Es gab die Vorstellung von einer Umgebung, die sich gut und richtig anfühlte, einen inneren Bezugspunkt zu dem Leben, das ich eigentlich wollte.

In meiner Phantasiewelt war ich frei und ein Teil von mir blieb stark und sicher. 

Denn neben all den Selbstzweifeln, die sich im Alltag meterhoch über mir auftürmten, behielt etwas in mir die Gewissheit, dass ich richtig war. Dass es etwas anderes für mich geben könnte als die bedrückenden, gewaltvollen Strukturen, in denen ich mich ständig befand (ohne dass sie je so benannt wurden).

Ein leiser, aber immerwährender Zweifel daran, dass die Realität, die mir viele Jahre als erstrebenswert verkauft wurde, die einzige sei, die ich wählen könnte. Dieser Zweifel zeigte sich an meiner unerschöpflichen Neugier auf andere Länder, Religionen, Sprachen, Zeiten und Lebenskonzepte.

Auch, wenn ich über lange Phasen so erschöpft und ausgebrannt war, dass ich mir nicht mehr zutraute zu reisen – irgendeine Doku ging immer und hielt den Funken Sehnsucht nach einem anderen Leben in mir lebendig. 

Aber was ist denn nun eigentlich real? Und was Phantasie? 

Klar, wenn du das nächste Mal durch den Wald spazierst, werden dir keine Feen um die Nase flattern und du wirst vermutlich auch keinen Drachen treffen. Trotzdem ist das Glück sehr real, das Menschen empfinden können, wenn sie sich eine phantastische Welt vorstellen, die hinter den glitzernden Tautropfen, dem plätschernden Bach und dem Rauschen des Windes in den Zweigen liegt. (…und nebenbei: Was wissen wir schon wirklich so ganz genau? Schonmal mit Quantenphysik beschäftigt?)

Aber ich will noch auf etwas anderes hinaus: Wenn wir der Phantasie in uns Raum geben und die damit verbundene Kraft und Freude durch unseren Körper strömen lassen, können wir in unserem „realen“ Leben viel mehr verändern, als uns lange eingeredet wurde.

Sobald wir uns öffnen für all die geheimnisvollen Wege, die wir in diesem Wald nehmen können, liegt der ganze Reichtum unseres Lebens vor uns. 

Noch vor wenigen Jahren war ich mit meiner Familie in Alltagsstrukturen gebunden, die uns alle stark belasteten. Die Vorstellung, noch weitere Jahrzehnte so verbringen zu müssen, schnitt meinem Mann und mir die Luft ab – und wir begannen, von anderen Wegen zu träumen: Deutschland verlassen und mit unseren Kindern reisen, all die Schätze entdecken, die diese Welt zu bieten hat, uns irgendwo niederlassen, wo wir unseren Alltag wirklich selbst gestalten könnten…

Wir hatten weder Plan noch Landkarte, aber unser innerer Kompass zeigte immer wieder in die gleiche Richtung. Irgendwann begann ich, auch mit anderen Menschen darüber zu sprechen und die Reaktionen waren unterschiedlich, aber überwiegend skeptisch. Eine ist in meinem Gedächtnis hängen geblieben wie klebriger Teer. Sie stammt von einem Menschen, der mich seit meiner Geburt kannte, und klang (begleitet von einem müden Lachen) etwa so:

„Ja, klar. Klingt nett. Und jetzt was realistisches.“

Dass wir einige Jahre später so leben würden, wie wir es jetzt tun, lag völlig außerhalb der Vorstellungskraft dieser Person. Glücklicherweise aber nicht außerhalb unserer eigenen – und nur aus diesem Grund konnten wir die erdrückenden Strukturen verlassen.

Wenn ich heute meiner irischen Nachbarin erzähle, dass Familien an deutschen Flughäfen kurz vor Ferienbeginn polizeilich auf Schulpflicht kontrolliert werden, fällt sie vor Lachen fast vom Sofa. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass das irgendwo Realität ist.

Was uns normal und realistisch erscheint, hängt enorm vom Horizont unserer Mitmenschen ab – und von unserer Neugierde auf das, was dahinter liegt. 

Wenn wir einen Raum in uns halten, in dem unser fühlendes Wesen sicher ist und unsere Kreativität in alle Richtungen wachsen darf, dann finden wir immer Wege, die uns ein Stückchen näher zu dem bringen, wonach wir uns sehnen.

Solange wir solche Wege finden, erleben wir Vorfreude. Und wenn auch nur ein klitzekleiner Teil von uns sich so freut, wie das Kind, das samt selbstentworfener Schatzkarte ins Abenteuer zieht – dann lohnt sich jeder einzelne Tag unseres Lebens, egal an welchem Punkt wir gerade stehen.

Während in deinem Umfeld vermutlich einige skeptisch die Stirn kräuseln und statt deiner Träume lieber „was realistisches“ von dir hören wollen, sage ich: Behalte deine Phantasie. Hege und pflege sie wie einen Schatz in dir, lass dich von ihr trösten, stärken und dir den Weg zeigen. 

Denn dein Leben ist immer auch phantastisch. 

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