Sie ist wieder da, die Sommerzeit – für viele Familien Vorbereitungszeit auf die Einschulung. Und wie immer ist das Internet voll von Tipps, wie Eltern am besten an diese große Veränderung herangehen.
Sehr beliebt sind Ratschläge für die Zubereitung einer gesunden Pausenmahlzeit. Vollkornbrot und so. Hält sich eh niemand dran – aber was soll’s.
Ein bisschen Gerede um gesunde Snacks lenkt so schön von den Gefühlen ab, die in der Tiefe brodeln.
Inzwischen trauen sich manche Eltern aber, vorsichtig hinter die Kulissen zu schauen. Hinter die Fassade einer rosig-blumigen Einschulungswelt, in der alle nur positiv aufgeregt sind und Tränen ausschließlich Nostalgie oder Vorfreude zeigen.
Hinter der Fassade können Zweifel liegen.
Ängste, Unruhe – und ein Gefühl von Enge, das sich kaum einordnen lässt.
Doch sobald Eltern Sorgen äußern, wird das Pausenbrot zur Nebensache. Jetzt bekommen die Ratschläge eine andere Wendung: „Dein Kind wird jetzt selbstständig. Und für dich ist es Zeit loszulassen.“
Wenn auch du Sorgen vor dem Schulbeginn hast, dann bitte ich dich, einen Moment innezuhalten:
Hilft dir dieser Satz wirklich?
Fühlst du dich damit gesehen? Entspannt sich dein Körper und lässt der Druck nach?
Wenn ja – prima. Vielleicht ist es genau das, was du brauchtest. Vielleicht freust du dich darauf, dass andere Menschen die Bildung deines Kindes mitgestalten und du nicht die ganze Verantwortung allein tragen musst. Das ist völlig in Ordnung.
Wenn der Druck aber bleibt, wenn sich die Enge in deinem Bauch, Herzen oder Hals weiter zuzieht – dann hat das Gründe.
Vielleicht denkst du, du bist eine „überbehütende Glucke“. Vielleicht hast du das Gefühl, du schaffst es einfach nicht, diese Leichtigkeit und Vorfreude zu entwickeln, die alle anderen Eltern vor der Einschulung versprühen. Und vielleicht schämst du dich so sehr dafür, dass du nie wieder offen über deine Einschulungssorgen redest.
Ich sage:
Deine Unruhe und Beklemmung vor der Einschulung machen Sinn.
Und wenn jemand dir sagt, du solltest dein Kind „loslassen“, dann bringt dieser Satz etwas in dir zum Verstummen. Denn er lenkt den Blick weg vom eigentlichen Problem – und gibt vor, dass der Fehler bei dir liegt.
Mir geht es hier nicht darum, jemandem böse Absicht zu unterstellen. (Auch wenn das natürlich vorkommt.) Mir geht es um die Strukturen: das Schulsystem und unseren gesellschaftlichen Umgang damit. Beide sind zu großen Teilen manipulativ und gewaltvoll – und viele merken es gar nicht.
Der Verweis auf das „Loslassen“ vor der Einschulung ist in meinen Augen völlig unangebracht.
Denn wirklich loslassen können wir nur, wenn wir es aus freien Stücken tun. Wenn wir eine freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung treffen, nicht weiter festzuhalten. Und ist die Einschulung eine freiwillige Entscheidung für dein Kind und dich? In Deutschland sicher nicht.
Damit loslassen auf eine gesunde Art funktioniert, müssen bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein. Und die haben viel mit emotionalen Grundbedürfnissen zu tun – bei Eltern wie Kindern.
Loslassen braucht Vertrauen. Vertrauen braucht Sicherheit. Und beides ist im deutschen Schulsystem Mangelware.
Stell dir vor, du bist zu einer Gartenparty eingeladen. Es gibt gutes Essen, Livemusik, schönes Wetter.
Was brauchst du, um dich dort sicher und wohl zu fühlen? Vielleicht vertraute Menschen? Vielleicht, dass dein Outfit nicht bewertet wird? Vielleicht eine ruhige Ecke zum Zurückziehen, wenn es zu laut wird?
(Denk mal kurz an den typischen Schulalltag … genau.)
Und wie sicher würdest du dich fühlen, wenn die Teilnahme verpflichtend wäre – egal, ob du dich wohlfühlst oder nicht? Wenn zwar niemand darüber spricht, aber alle wissen: Wer nicht kommt oder zu früh geht, wird bestraft.
Vermutlich wärst du angespannt – trotz Buffet, Musik und Sonnenschein.
Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sind essenziell, damit wir uns irgendwo sicher fühlen.
Wenn sie fehlen, können wir einer Umgebung nicht vertrauen – egal, wie sehr wir es versuchen oder wie schön das Setting wirkt.
Ein Teil von uns bleibt in Alarmbereitschaft, weil unser Grundbedürfnis nach Autonomie übergangen wurde.
Oder wie der Psychologe und Bildungsforscher Peter Gray es formuliert: „The most basic freedom is the freedom to quit.“
Die grundlegendste aller Freiheiten ist die, aufhören zu dürfen.
Schule in Deutschland verbietet genau das. Niemand darf sagen „Nein danke, das passt für mich nicht“. Niemand darf gehen und sich eine andere Bildungsform suchen – wie es in anderen Ländern absolut üblich ist.
Alle wissen es, aber kaum jemand spricht darüber:
Die Schulpflicht entzieht Familien Entscheidungsfreiheit.
Es mag nachvollziehbare Gründe dafür geben, über die wir sprechen sollten. (Zum Beispiel im Kontext von Vernachlässigung und Kinderschutz – das ist ein wichtiges Thema, über das ich an anderer Stelle schon viel geschrieben habe.)
Doch die Tatsache bleibt: Familien verlieren durch die rigide Schulpflicht einen großen Teil ihrer Selbstbestimmung. Und das macht etwas mit Menschen.
In dieser Lage sollen Eltern dann ihre Kinder voller Vertrauen loslassen. Prost Neujahr.
Manche werfen hier vielleicht ein: „Aber Kinder brauchen auch andere Bezugspersonen – das ist doch wichtig!“
Stimmt. Das Problem ist nur: Hier werden Dinge vermischt, die nicht zusammengehören.
Eltern sind evolutionsbiologisch nicht dafür gemacht, ihre Kinder ganz allein zu begleiten.
Wir brauchen das sprichwörtliche Dorf – auch, um selbst einigermaßen glücklich zu bleiben.
Aber das funktioniert nur, wenn wir diesem Dorf vertrauen. Wenn wir unsere Kinder dort gut aufgehoben wissen. Wenn wir mit sicherem Gefühl loslassen können.
Daraus ein „unnatürliches Klammern“ abzuleiten, wenn Eltern Bauchweh vor der Einschulung haben – das ist grob unfair.
Denn Schule ist selten die vertrauensvolle Gruppe, die Familien brauchen.
Natürlich kann es dort wertvolle und bereichernde Beziehungen geben. Aber wenn ich an Leistungsdruck, Mobbing, überlastete Lehrkräfte und die durchgehend fehlende Freiwilligkeit denke – dann wird klar:
Viele Schulen bieten in der Realität nicht die sicheren Bedingungen, die für Vertrauen und Wachstum nötig sind.
Ich fasse das mal zusammen:
– Schule ist kein Angebot, sondern ein Zwang – für Kinder und Eltern.
– Zwang untergräbt Vertrauen und emotionale Sicherheit.
– Darüber wird kaum gesprochen.
– Stattdessen heißt es: „Vertrau einfach und lass los.“
– Wenn Eltern das nicht können, gelten sie als zu ängstlich oder zu schwach.
In jeder anderen Beziehung wäre das ein klarer Fall von emotionaler Manipulation.
Im Schulsystem gilt es als normal.
Nochmal: Mir geht es hier nicht darum, einzelne Menschen anzuklagen – schon gar nicht Lehrkräfte, die selbst unter den Bedingungen leiden. Mir geht es um gesellschaftliche Prägungen und unsere kollektive Blindheit gegenüber struktureller Gewalt.
Ich begleite Eltern, die in diesem System verzweifeln und keine Worte für das finden, was dort mit ihnen und ihren Kindern geschieht. Für die Angst, die Ohnmacht, die Sprachlosigkeit.
Für all diese Eltern fordere ich:
Schluss mit dem Gefasel vom Loslassen zu Einschulung! Lasst uns ehrlich miteinander sprechen.
Eltern und Kinder haben beim Thema Schule kaum Mitspracherecht. Wenn sie sich andere Bildungswege wünschen, wird schnell mit Strafe gedroht. Die Unruhe vieler Eltern ist daher absolut verständlich. Und der Appell zum Loslassen verschärft den Druck, statt zu helfen.
Was heißt das jetzt für dich, wenn dein Kind bald eingeschult wird und du einen fetten Kloß im Hals hast?
Es heißt: Mit dir ist nichts falsch. Im Gegenteil, vermutlich reagierst du sehr gesund auf Strukturen, die einengend und belastend sind. Die Einschulung ist der Eintritt in eine Lebensphase, in der ihr in hohem Maße fremdbestimmt seid.
Es ist okay, das zu fühlen. Und es ist okay, es zu sagen.
Manche Familien setzen an dieser Stelle eine klare Grenze und wandern aus – dorthin, wo echte Bildungsfreiheit möglich ist. Aber wenn das für euch nicht infrage kommt, will ich dir Mut machen:
Auch innerhalb des Schulsystems gibt es Spielraum.
Du wirst nicht allem ausgeliefert sein.
Zum Beispiel kannst du mitentscheiden, welche Bedeutung ihr den Hausaufgaben gebt. Mit welcher inneren Haltung du zu Elternabenden und Lernstandsgesprächen gehst. Wie du die Beziehung zu deinem Kind stärkst – und mit welchen Themen und Aktivitäten ihr die schulfreie Zeit füllt.
In meinen Begleitungen bestärke ich Eltern, in all diesen scheinbar kleinen, alltäglichen Situationen ihr Gestaltungspotenzial wiederzufinden.
Und ich bin immer wieder berührt davon, wieviel sich ändern kann, wenn wir uns nicht mehr so einsam fühlen. Wenn wir dort selbstbestimmte Entscheidungen treffen, wo wir es können. Wenn wir unsere Würde und Stärke wiederfinden – auch innerhalb des Schulsystems.
Und zum Schluss möchte ich dir noch einen kleinen Impuls mitgeben. Vielleicht kann er hilfreich sein, wenn die bevorstehende Einschulung schwer auf deinen Schultern lastet:
Vielleicht kannst du einen kleinen Raum in dir freihalten, in dem die Neugier wohnt.
Mit Sicherheit wird es auch während der Schulzeit Menschen, Dinge und Situationen geben, die deinem Kind – und auch dir – Freude machen.
Vielleicht ist da eine Lehrerin, bei der dein Kind sich richtig wohl fühlt. Vielleicht lernst du beim Elternabend diese eine Mutter kennen, zu der sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Vielleicht entdeckt dein Kind auf dem Schulweg einen besonderen Stein – und damit seine Leidenschaft für Fossilien.
Auch, wenn dir die Schulzeit düster und bedrückend erscheint (was ich gut verstehen kann) – es wird sie geben:
Die kleinen leuchtenden Momente. Funkelnde Tautropfen und unerwartete Edelsteine.
Halte Ausschau danach.
Und wenn du dir Begleitung und Unterstützung wünschst – im Mentoring finden wir gemeinsam heraus, welche Möglichkeiten du konkret hast und wie du euren Alltag leichter und selbstbestimmter gestalten kannst.
→ Hier geht es zum Elternmentoring
Du musst diesen Weg nicht allein gehen.