Wann hast du dich als Mutter oder Vater das letzte Mal gesehen und wertgeschätzt gefühlt? 

So, dass du dich entspannen konntest? Dass ein wenig von dem anhaltenden, beklemmenden Druck sich löste? Dass du gespürt hast: Du musst nichts perfekt machen, um deinen Platz in der Welt zu haben. Du bist – auch in deiner Elternrolle – vollkommen, wertvoll und sicher. Und zwar genau so, wie du eben bist.

Schon länger her? Kenn ich.

Und jetzt möchte ich noch einen drauf setzen: 

Stell dir vor, deine Kinder gehen nicht zur Schule

Stell dir vor, du hast noch keinen fertigen Plan davon, wann und wo sie welche Abschlüsse machen und sitzt auch nicht jeden Tag mit ihnen 6 Stunden am Tisch, um ihnen irgendwas beizubringen.

Stell dir vor, ihr lebt einfach zusammen, macht Dinge, die euch gut tun und mit Freude erfüllen – Musik zum Beispiel, oder Ausflüge zu spannenden Orten, in die Natur, zu Freunden. Manchmal seid ihr aber auch gestresst, frustriert oder langweilt euch. So, wie Familienleben eben sein kann.  

Und dann kommt ein Mensch von der Bildungsbehörde… 

…spricht mit dir über dieses Leben und die Lernerfahrungen, die deine Kinder darin machen. Er bedankt sich herzlich dafür, dass du dir die Mühe gemacht hast, ihm vorab Infos über euch zu schicken, sodass er sich vorbereiten konnte.

Dann sprecht ihr über eure Wanderungen, das Spielen auf der Wiese vor dem Haus, über Bandauftritte, Fußballtraining, Lieblingsbücher, Rechenrätsel und Unterhaltungen beim Abendessen. Während ihr redet, trinkt ihr Tee, esst Kekse und zwischendurch kommt eins deiner Kinder, um mitzuplaudern und dann wieder spielen zu gehen. 

Was du von diesem „behördlichen Gutachter“ bekommst, sind keine spitzfindigen Fragen. Kein missbilligender Blick. Es ist aufrichtiges Interesse, echte Wertschätzung. Und das Gefühl, dass ihr ein Team seid – für die Bildung deiner Kinder und euer familiäres Glück.

Dennoch begleitet dich in den nächsten Wochen ein leicht mulmiges Gefühl und du glaubst noch nicht ganz, dass eine behördliche Überprüfung so freundlich und warm sein kann. Dass es so leicht sein darf. So menschlich. So ohne Fallen und Stolpersteine.

Währenddessen schreibt der freundliche Gutachter für jedes Kind einen 14-seitigen Bericht über alles, was ihr besprochen und er gesehen hat. Und bevor der Bericht einem behördlichen Entscheidungsgremium vorgelegt wird, bekommst du ihn. Nur für den Fall, dass du etwas korrigieren oder ergänzen möchtest. Könnte ja sein.

Dankbar dafür, dass deine Meinung überhaupt zählt, und gleichzeitig zum Platzen nervös (Schließlich gehen deine Kinder nicht zur Schule!) öffnest du die Datei – und beginnst dich langsam zu entspannen. Aus jeder Zeile des Berichts spricht tiefe Wertschätzung. Fast schon liebevoll pustet sie den letzten Zweifel, das letzte Fünkchen Furcht aus deinem System. 

Jedes Detail erzählt in wohlwollendem Ton davon, dass deine Kinder bekommen, was sie für ihr individuelles Wachstum brauchen. Und zwar intellektuell, sozial, emotional und körperlich. Uff. 

Ein tonnenschwerer Felsbrocken löst sich von deinem Herzen. Er hat schon viel zu lange dort gelegen und gedrückt.

Wenige Wochen später bekommst du Nachricht darüber, dass deine Kinder offiziell in das Register für außerschulische Bildung aufgenommen wurden – weil sichergestellt ist, dass sie ein in jeder Hinsicht ausreichendes Maß an Bildung erhalten. Anbei der Hinweis, dass die Behörde auch zukünftig in Kontakt mit euch bleiben wird. 

That’s it. So funktioniert schulfreie Bildung in Irland. 

Lass das ruhig mal kurz bis in deine hintersten Hirnwindungen rutschen. Das ist Realität, wie sie hier stattfindet. Ganz normal und alltäglich. Denn in Irland sind nicht nur irgendwelche streng geregelten Ausnahmen vom Schulbesuch möglich.

Hier gibt es ein in der Verfassung festgeschriebenes RECHT AUF BILDUNG AUßERHALB VON SCHULE.

Die irische Verfassung legt in Artikel 42 fest, dass für die Bildung eines Kindes primär dessen Familie zuständig ist und den Sorgeberechtigten freisteht, diese Bildung zuhause, an einer privaten oder staatlichen Schule zu ermöglichen. Darüberhinaus besagt Absatz 3.1 ausdrücklich, dass Eltern nicht dazu verpflichtet werden dürfen, ihre Kinder an eine Schule zu schicken. Beim Gedanken daran, welch enorme Bedeutung diese wenigen Worte für das alltägliche Leben und Glück so vieler Menschen haben, bekomme ich regelmäßig Gänsehaut. 

Gleichzeitig – und das finde ich persönlich sinnvoll – besitzt der irische Staat den Auftrag sicherzustellen, dass jeder junge Mensch ein „Mindestmaß an moralischer, intellektueller und sozialer Bildung“ erhält. 

Aus diesem Grund müssen ab dem 6. Geburtstag alle, die nicht in eine staatlich anerkannte Schule gehen, in ein gesondertes Register aufgenommen werden. Dafür stellen die Eltern einen Antrag bei der zuständigen Behörde, in dem sie z.B. Angaben über Lernorte, -materialien, ihre grundsätzlichen Beweggründe und Herangehensweisen machen. Sobald der Eingang des Antrags bestätigt wird, darf Home Education begonnen werden. 

Für die Aufnahme ins Register folgt ein persönliches Gespräch (Preliminary Assessment) mit den Eltern. Auf Grundlage dieses Gesprächs wird dann ein Gutachten mit Empfehlung für oder gegen die Aufnahme des jungen Menschen ins Register erstellt. Dabei wird der Entwurf des Gutachtens zuerst mit den Eltern besprochen, sodass diese die Möglichkeit haben, Anmerkungen zu machen, Missverständnisse zu klären oder Falschinformationen zu berichtigen.

Es geht hier nicht primär um Kontrolle und schon gar nicht darum, Druck auszuüben. Es geht um Vertrauen. Um konstruktive Zusammenarbeit.

Sollten dennoch Zweifel daran bestehen, ob die bereitgestellte Bildung die Mindestanforderungen erfüllt, kann die Behörde ein vertiefendes Assessment veranlassen und im äußersten Fall die Aufnahme ins Register verweigern – das passiert meines Wissens aber extrem selten. 

Und ja – natürlich sind unsere persönlichen Erfahrungen nicht 1:1 übertragbar. Gutachter*innen sind Menschen und individuell unterschiedlich. Euer Familienalltag sicherlich anders als unserer. Aber soviel kann ich inzwischen sagen: Unsere positive Erfahrung ist kein Einzelfall. All unsere befreundeten Familien, die ihr Assessment durchlaufen haben, erlebten es ähnlich konstruktiv und bestärkend wie wir. 

Vor allem für die deutschen Familien überwiegt regelmäßig das fast schon ungläubige Erstaunen darüber, wieviel Vertrauen und Wertschätzung uns Eltern in Irland entgegengebracht wird. 

Denn wir sind es bis in die Knochen gewohnt, dass wir verurteilt und abgewertet werden. 

Dass uns misstraut und mit Argusaugen auf die Finger geschaut wird. Dass jeder leise schulkritische Gedanke, jeder sehnsuchtsvolle Wunsch nach einem freieren, selbstbestimmteren Bildungsweg uns gefährlich werden kann. 

In Deutschland leben wir mit der Vorstellung, dass Bildung nicht anderes funktioniert als durch 13 Jahre Pflichtschulbesuch, den wir Eltern auf Biegen und Brechen durchsetzen müssen. Und weil wir selbst so sehr unter Druck stehen, ersticken wir jeden Zweifel, der uns noch mehr Schmerz einbringen könnte. Solange, bis wir es selbst glauben. 

Und weil mich das aus der Entfernung noch immer schmerzt, weil ich mitfühle mit all den erstickenden Eltern, die ganz tief im Herzen ein Leben für sich und ihre Kinder wünschen, das leicht und fröhlich sein darf – deswegen schreibe ich all das auf. Ich weiß, wie schwer es ist, die Perspektive zu wechseln, wenn du mitten im Suppentopf steckst und ohne Rücksicht umgerührt wirst. 

Und deshalb werde ich dir immer und immer wieder von außerhalb des Topfes zurufen und zeigen:

Die deutsche Verkopplung von Bildung und Pflichtschule ist nicht „die Wahrheit“. 

Es ist nur eine, von verschiedenen Faktoren geprägte und ausgesprochen starre Perspektive. Es geht definitiv anders. Und zwar ohne dass all die grässlichen Untergangsszenarien eintreten, die dir ein Leben lang erzählt wurden. 

Eine Gesellschaft fällt nicht automatisch auseinander oder radikalisiert sich, wenn die Schulpflicht aufgehoben wird. 

Die irische Gesellschaft gehört aktuell zu den freundlichsten, entspanntesten und tolerantesten, die ich kenne. Genau deshalb fühlen wir uns so pudelwohl hier – auch mit arabischem Namen. Und wenn ich momentan nach Deutschland schaue… Naja, brauch ich dir ja nicht zu erzählen. Ein Blick in die Nachrichten reicht.

Junge Menschen werden auch nicht zu isolierten Außenseitern, wenn sie nicht in die Schule gehen.

Jedenfalls nicht, wenn sie damit offen umgehen dürfen, ein wertgeschätzter, eingebundener Teil der Gesellschaft bleiben und auch ohne Schulbesuch ihren sicheren Platz haben. Wir waren noch nie in so viele bereichernde, soziale und kulturelle Aktivitäten eingebunden, wie hier – weil wir ohne Schule Zeit dafür haben. 

Bildung kann heißen: Das Leben genießen. Ja wirklich. Tun, was euch Freude macht. Zumindest meistens.

Genauso habe ich es in unserem Antrag an die Behörde formuliert: Dass wir die Lebensfreude unserer Kinder und ihre von Geburt an mitgebrachte Neugier auf die Welt erhalten wollen. Und genauso wurde es in den Bericht übernommen. Weil die Menschen in dieser Behörde wissen, dass manchen Kindern die Freude in der Schule abhanden kommt. Und dass sie bei ihrer Familie und ihren Freunden in den meisten Fällen gut aufgehoben sind. 

An dieser Stelle wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein Zweifel in dir aufploppen: 

Aber was ist mit all den Kindern, die zuhause nicht gut aufgehoben sind? Werden die ausreichend geschützt? 

Zu diesem Thema könnte ich gleich drei weitere Artikel schreiben – und das mache ich vermutlich auch. Hier nur soviel: Diese reflexhaft auftauchende Frage spiegelt das tiefe Misstrauen wieder, dass die deutsche Gesellschaft gegenüber Eltern hegt. Warum es wenig hilft, habe ich in meinem Artikel über glückliche Eltern beschrieben. 

Dazu noch eine persönliche Einschätzung. Ich habe in unserem deutschen Umfeld deutlich häufiger familiäre Gewalt gegenüber Kindern erlebt als in Irland, sowohl emotional als auch körperlich. All diese Kinder gingen in die Schule. Und weder den Kindern noch ihren Eltern wurde geholfen – denn solange die Kinder in die Schule gehen, passt ja offiziell alles. 

Ich weiß, manche Menschen aus der Jugendhilfe möchten mir jetzt an die Gurgel gehen. Verständlicherweise. Ich pauschalisiere. Aber einige stimmen mir auch zu: Das Schulsystem reproduziert an vielen Stellen Gewalt und viel zu viele Kinder werden eben NICHT geschützt – weder zuhause noch in der Schule. 

Natürlich ist Irland nicht Deutschland. Und natürlich kann ich nicht hellsehen und vorhersagen, was passieren würde, wenn wir morgen das irische System einführen. Aber eins weiß ich sicher: Dass die absoluten Glaubenssätze, die uns in Deutschland über Schule eingehämmert wurden, nicht wahr sind. 

Und ich rede hier nicht von bewussten Lügen, die sich irgendeine dunkle Macht ausgedacht hat, um uns alle in den Abgrund zu scheuchen. Oder ähnlichen Quark. 

Wir haben uns das als Gesellschaft einfach zu lange selbst erzählt und als Wahrheit verkauft. Aber dass Schule der einzig mögliche Bildungsweg und ausnahmslose Schulpflicht der einzig richtige Umgang damit ist, stimmt nunmal einfach nicht.

Ich habe den lebendigen Gegenbeweis. Es geht anders. Und dieses Eingeständnis wäre ein erster Schritt dahin, neue Wege und Lösungen zu finden. 

Wenn du deine ganz persönlichen Fragen zu diesem Thema mit mir besprechen möchtest, trag dich einfach in meinen Newsletter ein. Ich versende regelmäßig kostenfreie Kennenlerntermine und freu mich auf dich!

4 Antworten

  1. Hallo Marlene, da ich noch ziemlich neu in diesem ganzen Thema bin, sowie auch in einer engen Situation, suche ich nach neuen Anhaltspunkte etc. um unsere Freiheit, Selbst Bestimmtheit, Mensch sein und Menschen Rechte zu haben, ohne für jedes kleines Recht einen Blutkampf zu führen, um es auch leben zu können. Durch meine Recherche stieß ich auf diesen Block, der vieles interessantes beinhaltet, deshalb möchte ich Fragen, ob Sie/Du mir Anregungen und weitere Wege aufzeigen können, es umzusetzen?

    Über einen Austausch würde ich mich sehr freuen.

    Vielen Dank

    Mit freundlichen Grüßen
    Mariella

    1. Liebe Mariella, danke für deinen Kommentar! Ich werde hier immer wieder über das Thema selbstbestimmte Bildung schreiben und habe auch einen Podcast (Stark und Verletzlich), in dem es viel darum geht. Trag dich auch gerne auf meinem Newsletter ein, dann bekommst du immer direkt Nachricht über alle neuen Folgen und Artikel. Für die ganz persönlichen Fragen verschicke ich über den Newsletter auch kostenfreie Einzel-Gesprächstermine. Ich freu mich auf dich!

  2. Liebe Mariella!
    Vielen, vielen herzlichen Dank für diesen Artikel! Ich bin so berührt und fühle mich dadurch auch gesehen und wert geschätzt! Das tut so immens gut!
    Wie wundervoll, dass es so schöne Beispiele und Vorbilder gibt. Das macht Mut und erhält die Hoffnung und Zuversicht für eine bessere Zukunft!

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