Seit ich das erste Mal darüber nachdachte, wegen der Schulpflicht auszuwandern, begegnen mir immer wieder zwei Behauptungen:

  1. Menschen, die auswandern, ohne vorher ihre inneren Probleme aufzulösen, würden an jedem anderen Ort genauso unglücklich sein.
  1. Eltern, die auswandern, um ihren Kindern Bildung ohne Schule zu ermöglichen, würden weglaufen. Stattdessen sollten sie sich der Situation in Deutschland mutig stellen und gemeinsam gesellschaftlichen Wandel herbeiführen.  

An beiden Aussagen ist ein Funken Wahrheit. Gleichzeitig werden sie vielen Menschen und Situationen nicht gerecht, können verunsichern und blockieren. Besonders die Zweite trifft mich ins Herz.

Hier meine Erkenntnisse aus persönlicher Erfahrung und der Begleitung von auswandernden Familien:

1. Die Sache mit den ungelösten Problemen

Ich bin darauf schon häufiger eingegangen: Wenn wir auswandern, nehmen wir uns natürlich mit. Inklusive versehrter innerer Anteile und ungesunder Gewohnheiten. Wenn wir beispielsweise zu Existenzängsten neigen oder früh gelernt haben, emotionale Sicherheit über People Pleasing herzustellen – dann wird all das mit der Auswanderung nicht plötzlich von uns abfallen. Wir werden in neuen Umgebungen auf ähnliche Schwierigkeiten oder Beziehungsdynamiken stoßen. 

Ist das ein Grund, unser Fernweh zu unterdrücken und zu bleiben, wo wir sind? Ich glaube nicht.

Die inneren Baustellen „lösen“ sich genauso wenig, wenn wir nicht auswandern. 

Wieviele Menschen gibt es, die nie ihr Heimatland verlassen – und trotzdem auf riesigen inneren Vulkanen sitzen, die jederzeit in die Luft gehen können? Ich glaube, dass Auswandern manchen von ihnen eine echte Chance bietet: Grade die Erfahrung, dass alter Schmerz uns auch an andere Orte der Welt begleitet, kann wertvoll sein. Denn sie ermöglicht uns, den Schmerz klarer zu sehen und uns damit bewusst auseinander zu setzen. 

Um beim Beispiel des People-Pleasings zu bleiben: Wenn wir feststellen, dass wir auch den neuen Freund*innen ständig gefallen wollen und dabei unsere eigenen Bedürfnisse genauso unerfüllt bleiben, wie damals in Deutschland – dann ist der Blick nach innen nicht mehr weit. 

Wenn wir dann erkennen, dass wir schon seit Jahren auf einem Berg von Angst und Scham sitzen, können wir bewusst vorsichtige erste Schritte wagen: Wie fühlt es sich an, einen Termin abzusagen, den nur unser Pflichtbewusstsein zugesagt hatte? Können wir mit diesem ungewohnten Schritt ein Stückchen inneres Neuland erkunden? 

Und wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass wir erst heilen müssten, bevor wir auswandern? Erstmal unserer Angst ablegen, erstmal voll im Vertrauen sein, damit wir gehen können. Ich glaube, so funktioniert das nicht.

Die Vorstellung, dass wir etwas einmal lösen und dann damit „aufgeräumt“ haben, ist verlockend – aber falsch. Sie kann dazu führen, dass wir nie losgehen.

Weil wir von uns erwarten, dass wir zuerst aufräumen müssten, bevor wir losgehen dürfen. Viele alte Wunden lassen sich aber nicht „ein für allemal auflösen“. Sie begleiten uns ein Leben lang und werden uns immer wieder begegnen, herausfordern und – wenn wir offen dafür sind – wachsen lassen. 

Natürlich können wir das auch ohne Auswanderung erleben. Manchen Menschen hilft der Ortswechsel aber, die alten Pakete überhaupt erst sehen und fühlen zu können. Nicht nur, weil wir merken, dass wir dieselben Menschen bleiben, sondern auch, weil bestimmte belastende Strukturen im Ausland unter Umständen wegfallen. Schulzwang zum Beispiel. Durch eine Veränderung der Umgebung kann Raum entstehen, uns unserer Heilung in Ruhe zuzuwenden. 

Die zweite Annahme, die mir oft begegnet, klingt wie ein Vorwurf. Ich formuliere sie hier als Frage: 

2. Verweigern ausgewanderte Eltern die Auseinandersetzung mit Menschenrechten und Bildungsfreiheit in Deutschland? Laufen wir aus Überängstlichkeit und Unwissenheit unserer Pflicht davon, für gesellschaftlichen Wandel zu sorgen? 

Auf den ersten Blick kann ich die Frage nachvollziehen: Wie soll sich in Deutschland je etwas ändern, wenn alle weggehen, denen Bildungsfreiheit am Herzen liegt? 

Und nein, Auswandern ist weder einfach noch der beste Weg für alle Familien. Es gibt viele Eltern, die sich aus guten Gründen dafür entscheiden, in Deutschland zu bleiben. Einige von ihnen ermöglichen ihren Kindern selbstbestimmte Bildung in offener Kommunikation mit den Behörden. Ratsuchende, die sich das wünschen, leite ich regelmäßig an kompetente Begleiter*innen weiter, die diesen Weg in Deutschland gegangen sind und wertvolles Wissen zu den einzelnen Schritten haben. 

Ich freue mich von Herzen für jede Familie, die in Deutschland einen passenden Bildungsweg findet.

Um ehrlich zu sein: Kurz nach unserer Auswanderung gab es eine Zeit, in der mich Berichte von „erfolgreichen“ Freilerner*innen (oder auch glücklichen „Schulfamilien“) in Deutschland verunsichert haben. Weil sie meinen Abschiedsschmerz und meine Zweifel an der eigenen Entscheidung befeuerten. 

Es mag absurd klingen und ist nichts, was ich gerne ausspreche: Ich konnte mich eine Weile nicht am Glück und Erfolg anderer Menschen freuen. Jedes Bild einer vermeintlich heilen Welt in Deutschland war wie ein Dolch in meinem Herzen.  

Inzwischen bin ich dankbar für alle heilsamen Erfahrungen, die uns die Auswanderung geschenkt hat. Je glücklicher ich mit unserem neuen Leben wurde, desto leiser und sanfter wurde das Gefühl von Schuld und Reue. Desto mehr konnte ich mich wieder mit Menschen freuen, die andere Wege gehen. 

Ich bin froh über jedes Gerichtsurteil und eingestellte Verfahren, das selbstbestimmte Bildung innerhalb Deutschlands unterstützt. Über jede Familie, die sich auch ohne Schulbesuch in Deutschland gut aufgehoben und sicher fühlt. Wirklich. 

Die Annahme aber, dass eine Auswanderung generell unnötig sei oder Eltern damit ihrer Verantwortung davonlaufen, ist unfair. 

Sie verharmlost er die Erfahrung und Situation vieler Familien. 

Es gibt Eltern, die im deutschen Schulsystem oder ihrem privaten Umfeld über Monate und Jahre unter Druck gesetzt und emotional erpresst werden. Immer unter Berufung auf die gesetzliche Schulpflicht. Eltern, deren Wahrnehmung massiv verunsichert und manipuliert wird. Ihnen wird erzählt, sie seien Schuld daran, dass ihr Kind den Schulbesuch ablehnt. Oder dass es krank sei. Angehörige, Schulleitungen oder Behörden kriminalisieren Eltern, die den Bildungswunsch ihres Kindes ernst nehmen. Drohen mit Schreckensszenarien, wenn sie es nicht zum Schulbesuch zwingen. 

All das ist emotionale und strukturelle Gewalt. 

Sie tritt sowohl auf persönlicher als auch institutioneller Ebene auf. Selbst, wenn Eltern sich theoretisch rechtlich dagegen zur Wehr setzen könnten: Oft sind sie durch jahrelange emotionale Gewalt und Gaslighting so verzweifelt und verunsichert, so erschüttert im Glauben an die Gerechtigkeit und das Wohlwollen ihres Umfelds, dass sie nicht die Kraft haben, innerhalb des Systems für die Rechte ihrer Kinder einzustehen. 

Wenn diese Eltern auswandern, laufen sie nicht weg. 

Sie treffen die verantwortungsvolle Entscheidung, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. 

Wie gesagt – es geht mir nicht darum, Auswandern als die grundsätzlich richtige oder beste Lösung darzustellen. Eine Auswanderung ist in den meisten Fällen extrem herausfordernd. Wir müssen vom Leerräumen der Wohnung über Versicherungs- und Steuerfragen bis zur neuen Unterkunft Millionen Dinge gleichzeitig koordinieren. Wir müssen Abschiedsschmerz und das anfängliche Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit aushalten. Und gleichzeitig ein sicherer Hafen für unsere Kinder sein. 

Es macht absolut Sinn, uns vorher gut zu überlegen, was uns in diesem Sturm Sicherheit gibt – sei es ein finanzielles Polster oder die Gewissheit, dass wir uns auf unsere*n Partner*in verlassen können. Und ja – es kann durchaus passieren, dass wir auf unserem Weg irgendwann die Richtung ändern oder zurück gehen. 

Die Tatsache aber, dass Auswandern mit Familie eine enorme organisatorische, finanzielle und emotionale Herausforderung ist, zeigt:

Eltern, die sich für eine Auswanderung entscheiden, haben gute Gründe. Sie laufen nicht leichtfertig davon. 

Außerdem gibt es natürlich Menschen, die ohnehin schon lange davon träumen, die Welt zu bereisen oder in einem anderen Land zu leben. Wenn dieser Traum gleichzeitig ein Leben mit Bildungsfreiheit ermöglicht – weshalb sollten wir das als „Weglaufen“ bezeichnen? 

In unserem Fall war es beides: Die erdrückende Situation in Deutschland und unsere Neugier auf die Welt. 

Die Entscheidung, Deutschland dauerhaft zu verlassen, war dennoch eine der schwersten unseres Lebens. Und sie hat uns viel gekostet. Doch was wir dafür bekommen haben, ist unschätzbar wertvoll:

Hätten wir nicht ein halbes Jahr in Ägypten gelebt, dann hätten unsere Kinder keine tiefe Verbindung zu ihrer dort lebenden Familie, der arabischen Sprache und der Heimat ihres Vaters – also auch ihrer eigenen Herkunft – aufgebaut. 

Und wären wir nicht nach Irland gezogen, dann hätten wir nie erlebt, wie das Leben in einer Gesellschaft mit echter Bildungsfreiheit ist. 

Zu erfahren, dass wir als Familie ohne Schulbesuch ein vollwertiger, respektierter Teil der Gesellschaft sind, dass wir nichts verstecken oder rechtfertigen müssen, dass Menschen uns freundlich und offen begegnen, vielleicht sogar selbst ohne Schule leben oder sich für diese Möglichkeit interessieren – all das hat eine tiefgreifende, heilsame Wirkung auf uns. Als würden wir zum ersten Mal echte Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit erleben. 

In Deutschland wurden wir von wenigen Menschen (u.a. aus meinem familiären Umfeld) bewusst bedroht. Menschen, in deren Weltbild Bildung ohne Schule einfach nicht vorgesehen ist. Sie nutzten die gesetzliche Lage und die gesellschaftlichen Überzeugungen für emotionalen Machtmissbrauch an uns. 

Dabei hatten wir viele Freundschaften. Menschen, die uns in persönlichen Gesprächen bestärkten, für unseren Weg Glück wünschten oder sogar bewunderten. Doch gegen den immensen Druck, dem wir im Bezug auf Schulbesuch ausgesetzt waren, konnten sie nichts ausrichten. Beim Thema Schulpflicht war es, als breite sich eine Decke des Schweigens und der Lähmung über unser gesamtes Umfeld – und unsere eigenen Herzen. 

In Irland müssen wir auf einiges von dem verzichten, was wir in Deutschland hatten. Aber die lähmende Mischung aus Bedrohung und Schutzlosigkeit, die uns in Deutschland umgab, ist abgefallen. Wir können unser Leben selbstbestimmt gestalten und uns mit anderen verbinden, ohne in Rechtfertigungsnot zu geraten. 

Unsere neue Umgebung spiegelt uns, dass wir in Ordnung sind. Und dass es in Ordnung ist, glücklich zu sein. 

Schulfreie Bildung ist nicht nur legal, sondern von einem Großteil der Bevölkerung respektiert und wertgeschätzt. Und das in einem demokratischen Rechtsstaat innerhalb der EU.

Natürlich wussten wir das schon vor der Auswanderung. Es aber selbst zu erfahren, die persönliche Wertschätzung der Behörden und Freund*innen zu spüren, zu erleben, wie sich Atmung und Herzschlag beruhigen – das ist etwas völlig anderes. Wo auch immer unser Weg uns in Zukunft hinführt – diese Erfahrung ist ein Teil von uns geworden und wird uns von nun an begleiten.

Ist mir die Situation in Deutschland deshalb egal geworden? Natürlich nicht. Sonst würde ich nicht beharrlich meinen deutschsprachigen Blog und Podcast mit diesen Themen füttern. Doch erst die Erfahrung von emotionaler und rechtlicher Sicherheit in Irland macht es mir möglich, mich öffentlich zu äußern. Und ich äußere mich in der Hoffnung, dass ich mit meinem Wissen nicht nur Eltern in persönlicher Begleitung helfe, sondern auch zu einem gesellschaftlichen Wandel in Richtung Bildungsfreiheit beitrage. Ohne unsere Auswanderung könnte ich all das nicht mit dir teilen. 

Ich weiß, manchmal teilen wir Behauptungen unbedacht mit der Welt, ohne uns über deren Wirkung bewusst zu sein. Einfach weil wir gerade einen anderen Fokus haben. Das passiert mir auch. Wenn du aber liest oder hörst, dass Eltern aus Naivität oder Bequemlichkeit auswandern, biete ich dir eine andere Sichtweise:

Auswandern als „Weglaufen“ zu bezeichnen, verkennt den Schmerz, den wir vorher erlebten. Die Träume, die uns Hoffnung schenken. Die enorme Stärke, die wir dabei aufbringen. Und es verschweigt die wunderbaren Chancen, die auf diesem Weg liegen. 

Wenn du dich auf deinem Weg von mir begleiten lassen möchtest, kannst du verschiedenes tun – je nachdem, wie viel und wie enge Begleitung du dir wünschst:

  • Abonniere meinen Podcast Stark und Verletzlich.
  • Trag dich auf meinen Newsletter ein. 
  • Schreib mir eine kurze (oder auch längere) Email an info@sajuno.de und ich schicke dir den Anmeldelink für ein kostenfreies Kennenlerngespräch. Dort besprechen wir gemeinsam, in welchem Rahmen ich dich persönlich begleiten kann. Ich freu mich auf dich!

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