Ich trage den Schmerz meiner Eltern und Großeltern. Eiseskälte, Todesangst, rohe Gewalt und bittere Einsamkeit – die Schatten der Vergangenheit liegen auf meinem Herzen, sind spürbar in jeder Körperzelle. Und nicht nur in mir. 

Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland komme, spüre ich schon während der ersten Passkontrolle die Schwere, die durch Flughäfen, Bahnhöfe und Straßen wabert. Sie liegt über Kinos, Supermärkten und Wohnzimmern. 

Unter all der Ordnung – sprachlose Verzweiflung und Trauer. So vertraut und so bedrückend. 

„Wo bleibt deine Wut?“, wurde ich oft gefragt. Und ja, ich kenne Wut. Mehr als einmal habe ich mich befreit aus den Schatten – und meiner Lebendigkeit Platz gemacht. Meinem Hunger nach Wachstum, nach der Schönheit und Fülle dieser Welt. Und das war gut so. 

Aber da wird oft etwas verwechselt. Wut ist nicht Groll. Wut ist nicht Hass. Wut ist Lebendigkeit – und wenn sie ihren Dienst getan hat, dann macht sie Platz für Frieden und Mitgefühl.

Ich spüre in dieser Gesellschaft einen festgefahrenen Hass auf Eltern, der mir als Mutter die Luft zum Atmen nimmt.

Und ich verstehe, woher er kommt. Wir wehren uns gegen den Schmerz, den unsere Eltern uns mitgegeben haben. Wir sprechen sie schuldig für all das Leid. Wir hassen sie dafür, dass sie uns weder Sicherheit noch Vertrauen schenken konnten – obwohl wir beides so dringend gebraucht hätten. Und wir sehen diese Schuld überall.

In jeder Mutter, die mit ihren Kindern verbunden ist, sehen wir einen Helikopter. In jeder Mutter, die für ihre Freiheit kämpft, einen Raben und eine Narzisstin. Väter kommen meist besser weg, doch Mütter bedrohen uns – in ihrer reinen Existenz. Denn sie erinnern uns an den Schmerz, den wir nicht fühlen wollen. Dabei vergessen wir in unserem blinden Groll:

Mütter sind Menschen. 

Ja, wirklich. Sie waren selbst mal Babys. Sie tragen den gleichen Schmerz. Sie haben das gleiche Bedürfnis nach Verbundenheit und Freiheit wie alle anderen Menschen. Sie brauchen Raum für Wachstum und Heilung. Und sie waren nie dafür gemacht, die Verantwortung für das Glück ihrer Kinder allein zu tragen. 

Doch mit dem Moment, in dem sie in dieser Gesellschaft ein Kind bekommen, richtet sich das Auge der Schuld auf sie. Als ob es den atmenden, lebendigen Menschen nicht mehr gäbe. Sie werden zur Leinwand für den Schmerz, der so schwer zu ertragen ist – und zur Zielscheibe für unsere Verachtung. Jeder ihrer Schritte wird reguliert, bewertet, verurteilt. 

Sie sollen nicht so lange stillen, geduldiger sein, weniger klammern, mehr motivieren, gesünder kochen, sich mal ein bisschen entspannen, früher arbeiten gehen, weniger meckern, mehr Kinder kriegen, weniger Kinder kriegen, vorher sowieso einen Elternführerschein machen, ihre Kinder ruhig halten, ihren Kindern volle Potenzialentfaltung ermöglichen, ihre Kinder zur Schule bringen und Hausaufgaben begleiten – und das natürlich ohne Stress. Könnte ja negative Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes in der Schule haben. 

Soll ich noch weiter machen? 

Und nein – die Lösung ist weder Ganztagsbetreuung noch Schulpflicht. 

Da haben wir schon wieder etwas total verdreht. Für viele Eltern mögen Schule und Kita eine Erleichterung im Alltagsstress sein. Vor allem deshalb, weil ihnen die Alternativen fehlen und sie ihre Miete bezahlen müssen. Aber sein wir ehrlich – hier geht es vor allem darum, dass die Arbeitskraft von Eltern ökonomisch genutzt wird. 

Wenn es uns wirklich um das Wohl der Eltern (und Kinder) ginge, könnten wir Care-Arbeit vernünftig bezahlen und ihnen auf andere Art freie Zeit für Erholung und Kreativität gönnen. In der Realität dürfen Eltern nach der mit Arbeit verbrachten Betreuungszeit ihrer Kinder noch deren Frust aushalten und co-regulieren – weil Schule und Kita selten die Bedürfnisse eines Menschenkindes befriedigen. 

(Randinfo: Nein, weder stundenlanges Schlucken von vorgesetztem Wissen noch der ständige Vergleich mit 30 Gleichaltrigen gehören zu den emotionalen Bedürfnissen eines jungen Menschen.)

Und nun lehne ich mich weit aus dem Fenster. Ich glaube, unter dem Vereinbarkeits-Gefasel liegt noch ein ganz anderes Motiv: Dass Kinder vor ihren Eltern gerettet werden müssten. Weil wir in Wahrheit einen tiefen, bitteren Groll auf Eltern haben. Weil wir sie für verfehlt und ungenügend halten.

Und da beißt sich die Katze in den Schwanz. NATÜRLICH schadet es Kindern, wenn ihre Eltern unter hohem emotionalen Stress stehen. Und das tun sie momentan, so viel ist sicher. 

Deshalb frage ich: 

Wer rettet Eltern vor dem Misstrauen und Hass ihres Umfelds? 

Was Eltern (und Kinder) wirklich brauchen, sind Wärme, Wohlwollen und Wertschätzung in einem Maße, das sich unsere kühle, überregulierte Gesellschaft erstmal vorstellen können muss. Wie alle Menschen brauchen sie Freiheit, Selbstbestimmung und Verbundenheit. Sie brauchen liebevolle Menschen, die so sicher und nah sind, dass sie ihnen ihre Kinder mit einem guten Gefühl anvertrauen können. Kein beschämendes „Sei keine Glucke!“ (Und auch sonst bitte keine Vergleiche mit Tieren und Fahrzeugen. Danke.)

Wir brauchen nicht noch mehr Regulierung und Einschüchterung. Wir brauchen auch kein f*cking verpflichtendes Kindergartenjahr. 

Was wir brauchen, sind glückliche Eltern. 

Eltern, die ihren Schmerz halten können, weil sie geliebt werden und sich aufgehoben fühlen – und nicht immer wieder Vorwürfe und Beschämung vor den Latz geknallt kriegen. Eltern, die sich selbst, ihre Kraft und ihre Träume kennen. Eltern, in denen das Leben sprudelt.

DAMIT sollte sich Politik mal beschäftigen. Nicht mit der Frage, wie wir noch mehr schlecht gemachte Bildung in Kinder hineinstopfen können oder die Arbeitskraft ihrer Eltern noch effizienter ausnutzen. 

So, und nun hab ich genug über die Gesellschaft gewettert. Jetzt schaue ich nach innen. Denn ich habe keinen Bock zu warten, bis sich „das System“ ändert, was auch immer das ist. 

Ich lebe jetzt.

Und ich fühle den Schmerz über das, was gefehlt hat. Über das, was auch meinen Kindern fehlt. Aber ich nehme die Schuld von meinen Eltern – und von mir. Ich habe keine Zeit, mich davon lähmen zu lassen. Denn in mir sprudeln auch Neugier und Lebensfreude. Oh ja. Vom Kopf bis in die Zehenspitzen.

Und ich werde nicht den Rest meiner Zeit in einer Rolle verbringen, die sich anfühlt wie ein Helm aus Eisen und Bitterkeit. Auch, wenn andere ihn mir immer wieder aufsetzen wollen. Auch, wenn ich ihn mir selbst noch aufsetze. Ich geb ihn wieder zurück. Denn er gehört nicht zu mir. 

Ich bin ein Mensch, der noch viel zu entdecken hat. Ich liebe dieses Leben und ich liebe meine Kinder. Und ich lass mir nicht mehr erzählen, dass das nicht zusammen passt. Dass wir erst durch ein Programm aus Bewertung und Abgeschnittenheit geschleust werden müssten, bevor wir in das Leben eintauchen und uns mit der Welt verbinden dürfen.

Die Sonne geht morgens für mich auf. Genau wie für dich. Damit wir jeden Tag unser eigenes Abenteuer erleben. Heilen. Wachsen. Fehler machen. Stark werden – und empfindsam bleiben. 

Wir sind Eltern, die lebendig bleiben. Und unsere Reise ist noch lange nicht zuende. 

2 Antworten

  1. Das ist das Treffendste und Schönste, was ich jemals zu diesem Thema gelesen habe. Wie klar es doch ist, wie einfach eigentlich. Deine Worte treffen einfach immer den Kern und mitten ins Herz.

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