Wenn ein junger Mensch Angst vor der Schule hat, kann das in Deutschland schnell unerträglich für ihn und seine Familie werden. Denn die Schulpflicht bleibt – egal wie groß die Angst ist. Verständlicherweise suchen Eltern in dieser Situation nach Hilfe und Lösungen. Viele wollen auch verstehen, woher die Angst kommt, damit sie etwas daran ändern können.
Wenn ich mir die aktuellen Berichte und Podcastfolgen zum Thema Schulangst anhöre, dann fallen mir 2 Dinge auf:
1. Das Bild vom „Kind, das sich zusammenreißen muss“, wandelt sich langsam.
Es kommt immer wieder zur Sprache, dass Schulangst ernst genommen werden und möglichst kein Druck auf den jungen Menschen ausgeübt werden sollte. Darüber freue ich mich aufrichtig.
Gleichzeitig frage ich mich, ob das in der Praxis wirklich umgesetzt wird und gelingt. Oder ob nicht doch eine Menge Druck ausgeübt und die Angst vor Schule im Grunde übergangen wird – und zwar in dem, was sie uns eigentlich zeigt. Denn ich sehe auch:
2. Sowohl Ursachen als auch Lösungen werden in vielen Fällen beim Kind und seinen Eltern gesucht.
Als Grund für Schulangst wird u.a. angeführt, dass das Kind schüchtern sei, eine „Neigung zur Ängstlichkeit“, „Schwierigkeiten mit Sozialkontakten“ oder andere Auffälligkeiten habe. Oder dass es sich überfordert fühlt, weil es Stoff verpasst und Lernlücken hätte.
Genauso häufig wird davon ausgegangen, dass junge Menschen mit Schulangst durch schwierige familiäre Situationen vorbelastet seien, dass Eltern zu viel Leistungsdruck ausüben, eigene Ängste auf ihr Kind übertragen würden – oder generell kein ausreichend erholsames und bindungssicheres Umfeld einrichten. Oder genau andersherum: Dass sie es dem Kind zu kuschelig machen und dadurch nicht genug zum Schulbesuch motivieren.
Als Lösung wird u.a. vorgeschlagen, dem Kind Strategien an die Hand zu geben, um „die Angst in den Griff“ zu bekommen. Zum Beispiel, indem sie sich vor einem gefürchteten Referat laut sagen: „Ich schaffe das.“
Eltern werden dazu angehalten, positive Glaubenssätze im Bezug auf Schule zu etablieren. Selbstregulation zu üben. 100 Tipps und Tricks im Alltag umzusetzen, die dem Kind Schule wieder schmackhaft machen – und gleichzeitig selbstverständlich anzuerkennen, dass die „echte“ Behandlungskompetenz nur beim Fachpersonal (also den Therapeut*innen) liegt.
Natürlich gibt es auch Konzepte, die das Gespräch mit Lehrkräften und eine mögliche Anpassung der Lernumgebung einbeziehen, in meinen Augen überwiegt jedoch eindeutig die (verhaltens-) therapeutische Arbeit am Kind und seinen Eltern.
Als Elternberaterin, die schon einige solcher Situationen begleitet hat, zieht es mir dabei das Herz zu.
Hier werden Menschen – zumindest im Subtext – für eine Situation verantwortlich gemacht, die sie nicht verursacht haben und unter der sie häufig selbst massiv leiden. Und manche der Vorschläge und Handlungsanweisungen gegenüber Eltern, die ohnehin unter enormen Belastungen stehen, grenzen für mich wirklich an Zynismus.
Damit du mich nicht falsch verstehst: Ich bin die Letzte, die Therapien verteufelt oder davon abrät.
Wenn Menschen unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen leiden, halte ich fachspezifische, professionelle Begleitung für sinnvoll und notwendig.
(Gleichzeitig ist es wichtig darauf achten, dass die therapeutische Beziehung im individuellen Fall sicher und wertschätzend gestaltet ist. Nicht alle Therapeut*innen und Methoden passen für jeden Menschen gleich gut. Aber das ist ein anderes Thema. Grundsätzlich halte ich therapeutische Begleitung in vielen Fällen für heilsam bis lebensrettend.)
Und ja, selbstverständlich befinden sich junge Menschen, die Angst vor der Schule haben und trotzdem hingehen müssen, in einer leidvollen Situation. Sicherlich kann mitfühlende, therapeutische Begleitung in vielen Fällen zumindest ein wenig Linderung bringen.
Trotzdem frage ich mich, ob wir den ganzen Sachverhalt nicht völlig anders betrachten können und sollten:
Ist „Angst vor Schule“ überhaupt eine Störung? Und ist es sinnvoll, sie mit dem Ziel zu behandeln, dass der junge Mensch sie nicht mehr spürt?
Hier ein Gedankenexperiment:
Wenn ein Kind Angst hat, nachhause zu gehen, dann läuten alle Alarmglocken. Wir würden (berechtigterweise) die Frage stellen, was das Kind zuhause erlebt und ob es davor geschützt werden muss. Wenn es aber Angst hat, in die Schule zu gehen, dann gilt das als unliebsame Störung, die überwunden werden muss – damit das Kind weiterhin geht.
Ich finde, wir leben hier mit einer großen Portion Doppelmoral.
Was, wenn wir Schulangst aber nicht als ein Problem des Kindes betrachten, das wegtherapiert werden müsste? Was, wenn sie einfach eine vollkommen gesunde Reaktion eines jungen Menschen ist? Und zwar auf eine Umgebung, die ihm nicht gut tut?
Das würde bedeuten, dass wir die Ursache von Schulangst in der Schule selbst suchen.
Und ja, es gibt zaghafte Ansätze, die in diese Richtung gehen: Z.B. indem Lehrer*innen für ein entspannteres Lernumfeld und weniger Druck sorgen. Außerdem gibt es Versuche, das Schulklima durch Stress- und Konfliktbewältigungstrainings zu verbessern – und das ist sicher nicht falsch.
Was wir dabei jedoch vergessen: Schule bietet in ihrer Struktur als stark hierarchisch organisiertes System den Nährboden für Machtmissbrauch und Gewalterfahrungen. Sowohl zwischen Leitung und Lehrkräften (dazu empfehle ich den Podcast Life after Lehramt) als auch zwischen Lehrkräften und Schüler*innen und innerhalb der Peergroups von Gleichaltrigen, die unter dem ständigen Druck von Konkurrenz und Vergleich stehen.
Ich habe – nach Jahren der persönlichen Erfahrung und Begleitung von Eltern mit Schulkindern – dazu eine sehr klare Haltung: Gewalterfahrungen sind an vielen Schulen keine Seltenheit, sondern alltägliche, normalisierte Realität. Für viele junge Menschen ist Schule kein gesunder und sicherer Ort.
Dennoch zielt das komplette „Schulangst-Behandlungspaket“ darauf ab, das Kind wieder zurück in die Schule zu bewegen. An den Ort, der ihm Angst macht – und, sein wir ehrlich, möglicherweise weiterhin Schaden zufügt.
Zeigen wir damit jungen Menschen nicht immer wieder (wenn auch inzwischen mit freundlichen Worten), dass sie ihrem Gefühl nicht trauen können? Dass das, was sich nicht gut anfühlt, in Wahrheit gut für sie ist – und nur ihre Wahrnehmung ein bisschen verdreht? Vertuschen die Entspannungstechniken und Strategien, die wir ihnen an die Hand geben, nicht, dass sie zu etwas gezwungen werden, das über ihre Grenzen geht?
Und wenn ja: Wollen wir das?
Bei aller ehrlichen Wertschätzung für die Menschen, die viel Herzblut in die Begleitung und Wiedereingliederung von jungen Schulangst-Patient*innen geben – ich sehe hier eine Gefahr, die vielen nicht bewusst ist: Dass junge Menschen mehr oder weniger subtil manipuliert werden und das für normal halten.
Und als Mutter von 2 Kindern, die sowohl ein reiches soziales Netz als auch vielfältige Lernmöglichkeiten haben und NICHT in die Schule gehen, erscheint mir das ganze Schulangst-Prozedere manchmal wie ein riesiges, tragikomisches Theaterstück.
Als würden wir extrem angestrengt versuchen, an der besten Lösung vorbeizuschauen.
Der Lösung, die direkt vor uns auf dem Silbertablett liegt: Schulbesuch zu einer freiwilligen Angelegenheit machen.
Wenn unser Kind Angst davor hat, nachts allein in den Wald zu gehen – trainieren wir es dann dazu, sich zu überwinden? Nachdem wir im besten Fall vielleicht 2-3 Laternen aufgehängt haben?
Oder verschieben wir den Waldspaziergang einfach ins Tageslicht und machen ihn gemeinsam? Oder fahren gleich ans Meer, wo uns frischer Wind um die Nase weht?
Warum zur Hölle sollten wir einen jungen Menschen nachts in den Wald schicken? Und warum zur Hölle sollten wir Kinder in die Schule zwingen, wenn sie sich davor fürchten? Besonders die, die die Möglichkeit zu außerschulischer Bildung hätten?
Da fällt mir immer nur eine Antwort ein: Weil wir glauben, dass Bildung nur in Schule funktioniert. Wir kennen den Wald im Tageslicht nicht. Wir ignorieren all die anderen Länder, in denen außerschulische Bildung legal ist und für viele junge Menschen wunderbar funktioniert.
Klar können wir auch die nächsten 30 Jahre damit verbringen, uns die Augen zuzuhalten und so zu tun, als gäbe es keine anderen Wege. Dann werden wir auch weiterhin jungen Menschen mit Schulangst das Gefühl geben, dass sie verdreht sind und irgendetwas in den Griff kriegen müssten.
Oder wir trauen uns, die Hände vor den Augen mal einen halben Zentimeter weit zu öffnen und ein bisschen Tageslicht hineinzulassen. Und mit einem Schlag wären wir so viele Lasten los.
Doch auch wenn die deutsche Gesellschaft sich in Richtung Bildungsfreiheit weiterentwickelt (was ich sehr hoffe) – für viele Familien geht diese Entwicklung zu langsam oder kommt schlicht zu spät.
Wenn dein Kind Angst vor Schule hat und du nach konkreten Lösungen suchst, die euren Alltag erleichtern und nicht manipulativ sind, dann kann ich dir in persönlicher Begleitung helfen, einen individuellen Weg zu finden. Schick mir dafür einfach eine Anfrage an info@sajuno.de und wir vereinbaren ein kostenfreies Kennenlerngespräch.
2 Antworten
Danke für deine Gedanken.Super aktuell für uns gerade und ich kann dir nur zustimmen. Als es unserer Tochter ganz schlecht ging hieß es „das erste was wir schauen müssen ist, dass sie so schnell wie möglich wieder in die Schule geht“. oh Mann 😳
Das ist wirklich traurig und leider ein richtiger Standard-Spruch im Umgang mit Schulangst. Der Schulbesuch selbst steht oft vor der emotionalen Stabilität und Gesundheit der jungen Menschen. So viel unnötiges Leid. Danke dir für’s Teilen, ich hoffe, deiner Tochter geht es inzwischen besser!