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Eine der häufigsten Fragen, mit denen schulfreie Familien konfrontiert werden, lautet: Aber wie ist das mit den Kontakten? Kommt die Sozialisation nicht viel zu kurz?

An dieser Stelle frage ich gerne zurück: Welche Sozialisation ist denn gemeint? Was wollen wir für ein Miteinander? Für mich bedeutet soziale Kompetenz z.B. auch die Fähigkeit, sich für und mit anderen Menschen zu freuen. 

Klar, geteilte Freude ist doppelte Freude und so – haben wir alle längst verstanden, oder? Im Kopf zumindest. Dort gibt es kaum etwas, das wir noch nicht verstanden haben (Quantenphysik mal ausgenommen). Aber wie sieht es im Herzen und im Bauch aus?  

Was spürst du wirklich, wenn ein anderer Mensch glücklich ist, wenn eine Freundin Erfolg hat, wenn es einem Freund so richtig gut geht? 

Vielleicht gibt es da einen Stich. Einen Teil, der sich auf einmal klein und unbedeutend fühlt. Der besser zu ertragen ist, wenn er in einer dunklen Ecke bleibt – weil er den fetten Namen Neid trägt. Wenn es dir so geht, bist du damit nicht alleine. Ich glaube, diesen Teil haben alle Menschen, nur ist er bei manchen eher ein Windhauch und bei vielen so bedrückend, dass er sich nicht einfach wegatmen lässt.

Ich würde ihm noch einen zweiten Namen geben: Trauer. Und einen dritten: Einsamkeit. Viele von uns haben gelernt, dass es nur einen ersten Platz gibt, nur eine begrenzte Menge vom Kuchen. Dass das Licht der anderen das eigene überstrahlt und in den Schatten stellt. Nicht an das eigene Licht zu glauben, ist tieftraurig, fühlt sich kalt und einsam an.

Da ist es leichter, in den Kampf zu ziehen. 

Menschen kämpfen – ums Rechthaben, um Gegenstände, um Geld, um Freundschaft. Als gäbe es immer zu wenig von allem. 

Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Lästern eine wichtige soziale Funktion hat. Ich glaube das nicht. Vielleicht schafft es kurzfristige Erleichterung, lässt uns für einen Moment wertvoll und verbunden (verbündet) mit unserem Gegenüber fühlen – ein Pflaster auf der klaffenden Wunde von Trauer und Einsamkeit.

Aber mir geht es nie so richtig gut dabei, es macht mich nicht glücklich, wärmt nicht von innen. Andere abzuwerten, um selbst ein bisschen in der Rangordnung aufzusteigen und sich ein Stück vom Kuchen zu sichern, ist wie eine Droge, die alles schleichend vergiftet: Unsere Freundschaften, unseren Blick auf die Welt, unsere eigenen Herzen. 

Tief darunter bleibt der Wunsch nach echter Verbindung und die Sehnsucht, nicht mehr kämpfen zu müssen. 

Seitdem ich zwei Kinder beim Wachsen begleite, sehe ich jeden Tag, wie riesengroß der menschliche Wunsch nach warmen, echten Beziehungen ist, ohne andere dabei abwerten und ausgrenzen zu müssen – ohne das Glück der anderen zu zerstören.

Dabei ist ihnen völlig egal, ob die anderen 80, 25 oder 2 Jahre alt sind oder welche Sprache sie sprechen. Solange sie Wohlwollen und Wärme spüren, leuchten ihre Augen immer auf die gleiche Art, wenn sie mit anderen Musik machen, sich Witze erzählen, die neuen Schuhe bestaunen oder auf Bäume klettern.

Ja, innerhalb bestimmter Spiele gibt es auch Wettkämpfe, aber der Wunsch zu gewinnen übersteigt niemals ihren Wunsch danach, dass es allen gut dabei geht. Und das meine ich ernst – auch nachdem ich dreimal darüber nachgedacht habe. 

Ich sehe junge Menschen, die rausgehen, weil sie es lieben, ihr Glück mit anderen zu teilen. Denn sie wissen: Es wird ihnen nicht weggenommen – im Gegenteil, es gibt einen Ozean davon.

Bevor du jetzt denkst, in unserem Haus leben lauter kleine Heilige: Nein, hier gibt es auch Streit um blöde Kleinigkeiten – vor allem, wenn alle müde sind. Aber manchmal, wenn ich die Kinder dabei beobachte, wie sie mit weiten Herzen Freude verteilen und empfangen, dann spüre ich, wie eng mein eigenes Herz geworden ist nach all den Jahren, in denen ich kämpfen musste. All die Jahre, in denen ich dachte, es gäbe nicht genug. 

Und ich frage mich: Wie konnte das passieren? Wo ist mir und so vielen anderen das weite Herz verloren gegangen? 

Tausendmal habe ich mir diese Frage gestellt, jahrelang auf verschiedenen Kontinenten, in unterschiedlichen Gesellschaften und sozialen Situationen Beobachtungen gemacht, abendelang mit meinem Mann und unseren Kindern über ihre Erfahrungen gesprochen – und komme immer wieder zur gleichen Erkenntnis: 

Menschen werden gezwungen, ihr Herz zu verschließen, wenn sie permanent mit anderen verglichen werden und keine Chance haben, dieser Situation zu entkommen. 

Und wenn wir ehrlich sind, wissen wir: Das ist der Alltag der meisten jungen Menschen – besonders derer, die in die Schule gehen. Es ist das, was viele als „normal“, als „nötig“ empfinden. 

Egal ob in Deutschland, Irland oder Ägypten – ich sehe riesige Gruppen von Gleichaltrigen, die lernen sich zu behaupten, sich zu messen, sich gegenseitig zu hintergehen und verbissen um jeden winzigen Tropfen des kleinen Glücks zu kämpfen, den sie ergattern können. Eine gute Note, ein Lob, den besten Platz im Schulbus, die höchste Achtung der anderen.

Manchmal, wenn ich diese Gruppen nach Schulschluss nachhause wanken sehe – erschöpft, gereizt, sich prügelnd, mit traurigen, hinterhertrottenden Anhängseln – dann frage ich mich, ob überhaupt eine*r von ihnen einen Spritzer Glück abbekommen hat aus dem kleinen Fingerhut, der ihnen heute zugedacht war.  

Ich weiß, das klingt sehr pauschal und natürlich geraten nicht alle Schulkinder in diese Misere. 

Außerdem gibt es inzwischen Lehrkräfte und Schulen, die wirklich vieles daran setzen, Konkurrenz zu minimieren und gesunde Beziehungen zu ermöglichen. Aber für die Mehrheit ist die „Normalität“ des Schulalltags in meinen Augen nach wie vor erdrückend. Denn sie erleben emotionale (und oft auch körperliche) Gewalt, der sie sich einfach nicht entziehen können. Dass an manchen deutschen Schulen inzwischen Polizeistreifen gegen Mobbing eingesetzt werden, zeigt mir, wie verzweifelt die Situation ist – an den zugrundeliegenden Ursachen ändert es aber nichts. 

Wahrscheinlich können wir uns all die mühsamen Maßnahmen zur Mobbing-Prävention sparen, wenn wir – als Gesellschaft – einen Moment innehalten und uns ein paar ehrliche Fragen stellen:

  1. Tut der Alltag, den wir für normal halten, unseren Kindern wirklich gut? 
  2. Verbringen sie ihre Zeit in einer sozialen Umgebung, die nicht nur ihren Leistungswillen, sondern auch ihr Mitgefühl, ihre Lebensfreude, ihre Kreativität wachsen lässt?
  3. Wie wichtig ist uns Freiwilligkeit in sozialen Kontakten?

Ich kenne inzwischen viele junge Menschen, die nicht zur Schule gehen. Manche von ihnen haben sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, an diesem kalten Wettkampf teilzunehmen, in dem sie etwas so schmerzlich vermisst haben: Echte gemeinsame Freude.

Wenn ich sie erlebe, spüre ich, dass sie sich den Zugang zu dieser Freude bewahrt haben. Den Zugang zu einem Ozean voll Glück, der so unerschöpflich ist, dass der Kampf um Tropfen nichts anderes wäre als verschwendete Lebenszeit.

Wenn wir keine Angst mehr davor haben, Trauer und Einsamkeit zu spüren, können wir aufhören zu kämpfen. 

Wir können beginnen, Trost in uns selbst und in der Begegnung mit anderen zu finden. Sogar der Neid ist dann nicht mehr gefährlich. Er zeigt uns nur, was wir uns wünschen und wohin wir wollen. Das ist im Grunde wunderbar – schließlich haben wir ein Leben zu leben und was gibt es besseres als Träume und Ziele, für die wir jeden Morgen aufstehen?

Dabei können wir uns alles so viel leichter machen, wenn wir aufhören uns (und unseren Kindern) einzureden, dass es nötig wäre, ums Glück zu kämpfen. Es reicht, den Weg zum Ozean nicht zuzuschaufeln. Und um die Frage vom Anfang zu beantworten: 

Ob schulfreies Leben in jeder Hinsicht die beste Entscheidung für unsere Kinder ist, weiß ich nicht. Aber wenn ich mir um etwas wirklich keine Sorgen mache, ist das ihre soziale Entwicklung. 

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