Letztes Wochenende hatte ich Todesangst. Nicht, weil jemand mit einer Waffe vor mir stand oder der Boden unter meinen Füßen wackelte – sondern weil ich etwas tat, was ich jeden Tag tue: Ich sang ein Lied. Singen soll ja angeblich Angst blockieren, aber das war meinem Hirn egal.
Denn im Unterschied zu den Liedern, die ich in der Küche beim Abwaschen singe, waren diesmal 10 andere Menschen im Raum, vor mir stand ein Mikrofon und außer meiner Stimme und ein paar Gitarrenakkorden war nichts zu hören. Dabei war es nichtmal ein Konzert, nur eine ganz normaler Nachmittag mit Freund*innen in unserem Probenraum. Trotzdem rauschte das Blut in meinen Ohren, mein Herz hämmerte wie wild von innen gegen die Rippen und meine Hände klammerten sich zitternd aneinander.
Es war das erste Mal seit 20 Jahren, dass ich „öffentlich“ sang – und mein Körper machte sich bereit für einen tödlichen Angriff.
Wie bin ich da bloß hingekommen?
Ich glaube, dass alle Menschen Ausdrucksformen in sich tragen, die besonders gut zu ihnen passen. Wie Verbindungen zur Welt, Fenster im Herzen, aus denen das Licht hell und warm strahlt. Für die einen ist es Malen, für die anderen Tanzen, manche erzählen Geschichten und einige machen vieles gleichzeitig.
Wenn es unsere eigenen Fenster sind und sie von innen leuchten, dann erleben wir so viel Freude dabei, dass wir nicht mehr nach dem Zweck oder Aufwand fragen. Wir sind einfach da, berühren andere Menschen und werden selbst berührbar. Wir fühlen das Leben in unserem Körper und unseren Platz in dieser Welt.
Uns auszudrücken ist aber nicht nur unsere große Sehnsucht, sondern oft auch unsere tiefste Angst.
Denn offene Fenster machen uns verletzlich und leider haben die meisten von uns irgendwann erlebt, dass Steine darauf geworfen werden (darauf gehe ich hier und hier näher ein). Steine, die ins Herz treffen, tun furchtbar weh. Deshalb beginnen wir, unsere Fenster abzudunkeln, verhängen sie mit schweren Tüchern, mauern sie mit festen Ziegeln ein.
Ich habe neue Fenster aufgemalt und nette, lächelnde Gesichter – darunter aber blieb es still. Natürlich funktionierte ich weiter, machte alle möglichen Abschlüsse, Praktika und was den Lebenslauf sonst noch schick hält. Manchmal stahl sich der eine oder andere glückliche Lichtstrahl durch die Mauern, aber vielleicht war es auch nur die Straßenlaterne.
Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen echten Wünschen und aufgemalten, fühlte weder Verbindung zu mir noch zur Welt, war ständig gestresst und gleichzeitig innerlich eingefroren.
Über Jahre versuchte ich, alles immer richtig zu machen und niemals Zielscheibe zu werden – während meine lebendigsten Anteile leise vor sich hin welkten.
Meine Wege in die Welt waren schon immer Sprache und Musik. Vor allem mit dem Schreiben hatte ich schnell Erfolg, schrieb exzellente Aufsätze und Hausarbeiten und gewöhnte mich daran, genau das abzuliefern, was von mir erwartet wurde.
Was aus meinem Herzen kam, wurde immer leiser, und irgendwann in meiner Jugend hörte ich auf, Gedichte zu schreiben. Ich begann, kreatives Schreiben zu hassen – es kam mir albern vor und erinnerte mich daran, dass jedes Stück Text einen Preis hat. Ich schrieb weiter Hausarbeiten, gab sie ab und bekam gute Noten – während in meinem Herzen ein einsames kleines Mädchen saß, das sich verraten fühlte.
Mit diesem Blog versuche ich, meine Sprache wiederzufinden und manchmal empfinde ich die alte Freude, die ich hatte, als ich mit 8 Jahren Tiergeschichten schrieb. Aber oft ist es noch anstrengend und zäh – dann kämpfe ich mit den Worten, der Perfektionismus schiebt sich vors Fenster, will mich schützen und lässt kein Licht durch.
Mit der Musik ist das anders. Wenn ich ein paar Töne singe oder auf dem Cello spiele, ist alles sofort da. Bilder, Gefühle und Leben erfüllen den Raum, lassen Unwichtiges verschwinden. Wenn ich Musik mache, denke ich nicht mehr nach, sie fließt einfach durch mich hindurch. Nach jedem guten Film ist es die Musik, die tagelang in mir nachklingt.
Musik ist meine erste große Liebe.
Mit 18 stand ich vor der Entscheidung, „professionelle Cellistin“ zu werden – und entschied mich dagegen. Ich wollte meine Musik nicht zur Ware machen wie das Schreiben, wollte sie keinen Qualitätsurteilen ausliefern. Diesen Teil wollte ich für mich behalten. Aber weil ich so beschäftigt war mit Abschlüssen und Praktika, wurde auch die Musik in mir immer leiser und ich vergaß, wie wichtig sie mir war.
Erst Jahre später, als ich begann, meinem Sohn Abendlieder vorzusingen, löste sich ein Knoten. Das längst schlafende Kind neben mir, den Geruch seines Wollstramplers in der Nase, sang ich immer weiter. Ich sang und sang und spürte, wie etwas in mir lebendig wurde, wie sich mit den warmen Tönen, die den Raum erfüllten, eine ganze Welt für mich öffnete. Eine Welt, die lange verschlossen, aber immer schon da war und die bis zu den Sternen reicht.
Eine Welt, für die es sich wirklich lohnt zu leben.
Seitdem singe ich wieder. Doch die Angst will mich weiterhin vor fliegenden Steinen schützen und lange hörte kein anderer Mensch zu als mein Mann und die Kinder. Vor einem Jahr lernten wir dann eine Gruppe von Musiker*innen kennen und weil einer unserer Söhne als Percussionist schnell einen Platz darin hatte, gehören Proben, Konzerte – und wunderschöner Gesang – inzwischen zu unserem Alltag.
Eine Weile versuchte ich mir einzureden, dass damit alles prima sei: Ich war umgeben von Musik und konnte alles von der sicheren Zuschauerbank beobachten, musste nichts von mir und meinem Herzen preisgeben. Den immer stärker werdenden Wunsch mitzusingen und die Traurigkeit, die sich auf der Zuschauerbank in mir ausbreitete, ignorierte ich.
Doch glücklicherweise bin ich nicht (mehr) besonders gut darin, meine Wünsche über lange Zeit zu unterdrücken – und so kam der Tag, an dem ich die berühmte Komfortzone verließ, mich vor das Mikro stellte und „Jenny of Oldstones“ sang.
Wenn du glaubst, dass damit alles in Butter ist, muss ich dich enttäuschen: Damit fing der Spaß erst richtig an.
Ich hatte mich gut vorbereitet, das Lied tausendmal gesungen, dachte, dass ich klarkommen würde – und trotzdem brachen Angst und Scham mit einer solchen Wucht über mich herein, dass mir die Luft wegblieb (ein Wunder, dass noch Töne kamen).
Gleichzeitig passierte in diesem Moment noch etwas, das ich erst später verstand: Meine Wahrnehmung verschob sich radikal und fokussierte sich auf nichts anderes als Gefahr. Jede gehobene Augenbraue, jede Bewegung der anderen interpretierte ich als Zeichen der Ablehnung. Noch eine Stunde danach war mir übel, ich hatte das Gefühl, der peinlichste Mensch auf Erden zu sein und wollte mich in einem möglichst dunklen Loch verkriechen.
Mein Mann und meine Freundin hatten die Situation völlig anders wahrgenommen als ich mit meinem hochgestressten Nervensystem. Erst als sie mir versicherten, dass mein Lied schön und berührend gewesen war und niemand mich aus der Gruppe verstoßen wollte, begann mein Verstand mir leise zuzufunken, dass da ein uraltes Programm in mir ablief.
Und während ich Zentimeter um Zentimeter, Minute für Minute in die Gegenwart zurückkehrte, begannen die Tränen zu laufen und ich stellte mir die Fragen, die sich vermutlich viele traumatisierte Menschen stellen: Was muss mit mir passiert sein, dass ich in einer harmlosen Situation so tief durch die Hölle gehe? Und, viel wichtiger:
Wenn es so verflucht wehtut: Warum tu’ ich mir den Scheiß eigentlich an?
Das ist eine sinnvolle Frage, die wir uns ernsthaft stellen sollten. Nicht alles, was wehtut, bringt uns weiter. Oft macht es viel mehr Sinn, uns Ruhe zu gönnen und zu genießen, was sich gut anfühlt. Um ehrlich zu sein, bin ich überhaupt erst in diese Situation gekommen, weil ich vorher schon mit viel Zeit und Ruhe innere Kapazität aufgebaut hatte und bereit war, dem Schreckgespenst zu begegnen.
Ich weiß, dass es mit einem Mal nicht getan ist. Ich werde wieder singen, wieder die Angst aushalten, wieder schwitzen und zittern. Obwohl ich bequem an der sicheren Seite sitzen bleiben könnte, habe ich beschlossen, all das in Kauf zu nehmen und mit bloßen Händen Stein für Stein aus der Schutzmauer zu kratzen – denn ich habe einen wirklich guten Grund dafür:
Hinter der Mauer sitzt ein singendes Mädchen, das raus will in die Welt. Wenn ich sie einfach dort sitzen und ihr Licht verlöschen lasse, beraube ich mich selbst meines wertvollsten Schatzes: Meiner eigenen Lebendigkeit. Und mal ehrlich: Warum sollte ich das tun? Wofür bin ich denn hier?
Und damit komme ich zum Abschluss: Weshalb erzähle ich dir die ganze Geschichte?
Wenn du meinen Blog liest, bin ich ziemlich sicher: Auch du hast etwas in deinem Herzen, das raus will. Vielleicht kannst du gar nicht genau sagen, was das ist, aber du fühlst, dass es es voller Lebensfreude steckt – und viel zu wenig Luft bekommt. Und vermutlich gibt es auch in dir laute Stimmen, die dir erzählen, dass das alles albern, peinlich und unwichtig ist.
Ich sage: Ohne die Momente, in denen unser Herz übersprudelt und wir unsere Stimme in die Welt schicken, ist das Leben eine sinnlose Aneinanderreihung von abgearbeiteten Plänen.
Auf’s Pläne Abarbeiten werden wir bestens trainiert und natürlich können wir so unser gesamtes Leben verbringen – unsere Stimme müssen wir nach diesem Training aber erstmal wiederfinden. Und das kostet Anstrengung, Schmerz und viele, viele kleine Schritte.
Ohne einen guten Grund wirst du das Durchhaltevermögen für diesen Weg nicht aufbringen. Aber wenn du ihn hast, kannst du hier und jetzt mit dem ersten Schritt beginnen.
Dafür musst du dich nicht sofort auf die Bühne gehen. Vielleicht singst du heute deinem Kind ein Abendlied vor. Oder du holst die eingetrockneten Farben aus dem Schrank. Oder du erzählst der Freundin endlich von deinem Traum, auf Weltreise zu gehen (und nicht wiederzukommen). Nimm den ersten Stein aus der Mauer und zeig der Welt ein bisschen von deinem Licht – sonst weiß niemand, dass du da bist.