Selbstbestimmte Bildung – Elternrecht oder Kinderrecht?

Ist Freilernen eine Bildungsform, die ein junger Mensch für sich selbst wählt? Oder ist es das Recht und die Verantwortung von Eltern zu entscheiden, ob ihr Kind zur Schule geht oder nicht?

Diese Frage wird in der deutschen Freilern-Szene immer wieder diskutiert – besonders, wenn es um die Rechtfertigung selbstbestimmter Bildung gegenüber Behörden und Gerichten geht. Denn die gesetzliche Schulpflicht ruft eine Konfrontation mit diesen Institutionen auf den Plan, sobald eine Familie schulfreie Bildungswege einschlägt. (Über die Möglichkeit des „Untertauchens“ spreche ich hier nicht, weil ich sie aus verschiedenen Gründen für problematisch halte.) 

Ist selbstbestimmte Bildung also ein Elternrecht oder das Recht des jungen Menschen, um dessen Bildung es geht?

Ich bin keine Juristin und werde hier keine Gesetzestexte auseinander nehmen. Dennoch habe ich zu diesem Thema eine persönliche Haltung: 

Nach meinem Verständnis hat jeder Mensch, egal welchen Alters, das Recht auf Selbstbestimmung – z.B. bei der Nahrungsaufnahme, beim (Körper-)Kontakt zu anderen und eben auch beim Erlernen von Wissen und Fähigkeiten. 

Ein gesetzlicher Zwang zum Schulbesuch steht diesem Recht in vielen Bereichen eindeutig entgegen: Dem jungen Menschen wird über eine breite Spanne seiner Lebenszeit strikt vorgegeben, mit wem er sich an welchem Ort aufhalten und welche Inhalte er auf welche Weise lernen muss. 

Wer darüber eine Weile ernsthaft nachdenkt, wird zugeben, dass Selbstbestimmung (zumindest in klassischen Schulformen) stark eingeschränkt ist. Ich kenne keine Erwachsenen, die sich noch einmal freiwillig 13 Jahre lang einer solchen Fremdbestimmung aussetzen würden. Und weil auch Kinder Menschen sind, betrachte ich erzwungenen Schulbesuch als gewaltvollen Akt, als Verletzung ihres Rechts auf freie Persönlichkeitsentfaltung und ihrer Menschenwürde.

Der Zwang zum Schulbesuch widerspricht für mich aber nicht nur grundlegenden Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten, sondern auch dem „Recht auf Bildung“. 

Durch die Schulbesuchspflicht wird ein junger Mensch daran gehindert, andere Lern- und Bildungsformen zu wählen, die vielleicht seinem Bildungsbedürfnis eher entsprechen. Anders als in vielen anderen Ländern, wurde in Deutschland aus dem wichtigen „Recht auf Bildung“ eine „Pflicht zum Schulbesuch“, die andere Bildungsmöglichkeiten schlichtweg ausschließt. Gelingende Bildung kann nach meinem Verständnis aber nur auf der Grundlage von Freiwilligkeit und entsprechenden Wahlmöglichkeiten stattfinden.

Daraus ergibt sich:

Selbstbestimmte Bildung ist nach meiner Auffassung in erster Linie das Recht des Menschen, um dessen Bildung, Leben und Menschenwürde es geht. 

Wenn Bildung wirklich selbstbestimmt ist, zählt vor allem die freie Entscheidung dieses Menschen darüber, in welcher Umgebung, mit welchen Ressourcen und zu welchen Themen er sich bilden möchte. Zur Selbstbestimmung gehört übrigens auch, sich für den Schulbesuch entscheiden zu können. Denn je nachdem, wie eine Schule gestaltet ist, welche Beziehungs- und Lernangebote es dort gibt, kann sie für manche ein geeigneter Bildungsort sein. Solange er freiwillig genutzt wird.  

Ein bisschen plakativer ausgedrückt:

Selbstbestimmte Bildung ist NICHT das Recht der Eltern, ihre Kinder „aus der Schule zu nehmen“, weil sie mit den dort vermittelten Inhalten nicht zufrieden sind oder den Staat ablehnen. 

So weit, so klar. 

Was aber ist dann unsere Rolle als Eltern? 

Sollten Eltern nicht diejenigen sein, die dieses Recht für ihre Kinder einfordern? Sachlich, unemotional, standhaft – und vor allem, ohne persönliche Ansichten und Haltungen auf ihre Kinder zu übertragen? Damit es ganz sicher die selbstbestimmte Entscheidung des jungen Menschen ist? 

Auf einer idealen Eben irgendwie schon. Doch um ehrlich zu sein: 

Das Bild der Mutter, die vollkommen selbstlos für das Recht ihres Kindes kämpft, habe ich lange versucht einzunehmen. Und es ist eine Lüge. 

Ich bin keine Anwältin, die ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte in Neutralität verschwinden lässt, um einzig und allein für das Wohl und die Selbstbestimmung ihrer Kinder einzustehen. So sehr ich mir manchmal gewünscht habe, es zu sein – es wäre nicht die Wahrheit. 

Ich bin ein Mensch. Ich habe eine eigene, schmerzhafte Geschichte mit Schule, Erziehung und Fremdbestimmung. Ich habe als angehende Lehrerin selbst in Schulen gearbeitet und eine persönliche Meinung darüber, dass schulische Bildung in vielen Fällen nicht nur ineffizient, sondern auch gewaltvoll ist – und sowohl jungen Menschen als auch Lehrkräften nachhaltig schaden kann. 

Ob ich will oder nicht, diese Überzeugung hat Einfluss auf meine Kinder. 

Genauso beeinflusst sind Kinder von Eltern, die Schule für lebensnotwendig und den einzigen Weg zum Glück halten. Genauso beeinflusst sind alle jungen Menschen durch die Meinungen, Gefühle und Reaktionen ihres gesamten Beziehungsumfelds. 

Meine Kinder erleben beispielsweise, dass ihre beschulten Freund*innen jedes Mal einen Freudentanz aufführen, wenn die Ferien beginnen. Und dass bestimmte Formen von Anspannung, Konkurrenz und Mobbing im Kontakt mit anderen Freilerner*innen einfach nicht vorkommen. 

Sie sind beeinflusst von ihrem Vater, der Schule als unproblematisch erlebt hat – weil er immer die Wahl hatte, etwas anderes zu machen. Von ihrem Onkel, der sich mit 10 Jahren gegen Schulbesuch entschieden hat – und nun erfolgreich und mit Begeisterung mehrere Berufe gleichzeitig ausübt. 

Ich frage unsere Kinder regelmäßig, ob sie (wieder) in die Schule gehen möchten. 

Die Antwort war bisher immer eindeutig: „Nein danke.“ Das kann ich als selbstbestimmte Entscheidung annehmen. Aber ist diese Entscheidung unbeeinflusst von meiner Haltung und ihrem sonstigen Beziehungsumfeld? Nein.

Ich will, dass meine Kinder sich frei entscheiden können, welchen Bildungsweg sie wählen – und gleichzeitig sind sie de facto in ihrer Entscheidung auch abhängig von uns Eltern. Von dem Ort, an dem wir leben. Von den Angeboten, die wir ihnen machen. Von den Menschen, mit denen wir uns als Familie umgeben. Das nicht anzuerkennen, wäre Selbstbetrug.

Ich glaube, dass junge Menschen schon sehr früh Entscheidungen für sich treffen können – auch im Bezug darauf, mit welchen Themen sie sich beschäftigen und ob sie eine Schule besuchen wollen. Doch ich halte es für illusorisch, dass sie das völlig losgelöst von ihren Bezugspersonen tun. 

Die Frage ist: Warum finden wir das so problematisch?

Ich hab es oben schon erwähnt: Auch Eltern, die Schule für extrem wichtig halten, beeinflussen die Entscheidungen ihrer Kinder. Junge Menschen sind bis zu einem gewissen Grad einfach angewiesen auf ihr Beziehungsumfeld. Und ja – das kann problematisch werden, wenn dieses Umfeld gewaltvoll ist, die Freiheits- und Selbsbestimmungsrechte des Kindes einschränkt oder ihm auf andere Art Schaden zufügt. 

Was wir in Deutschland aber vergessen:

Gewalt kann sowohl im familiären als auch schulischen Kontext auftreten. Trotzdem betrachten wir Schule als Garant für freie Persönlichkeitsentwicklung und belegen Eltern pauschal mit Misstrauen. 

Der elterliche Wunsch nach Bildungsfreiheit und Selbstbestimmung für ihre Kinder wird reflexhaft als Versuch gewertet, vor allem eigene Interessen durchzusetzen und die Rechte ihrer Kinder zu beschneiden. Weil die meisten Eltern dies aber genau NICHT wollen, sondern sich FÜR die Rechte ihrer Kinder einsetzen, versuchen sie (verständlicherweise) jedes eigene Interesse, jede eigene, menschliche Befindlichkeit abzustreiten. 

So rutscht die ganze Diskussion dann zwischen zwei Extreme: 

Entweder, Eltern halten „das System“ für falsch und böse, wollen ihre Kinder daraus fernhalten und lehnen deshalb den Schulbesuch ab. Hier kommen wir schnell in einen Bereich von Isolation und elterlicher Indoktrination, der tatsächlich gewaltvoll ist, nichts mehr mit der ursprünglichen Idee von Bildungsfreiheit zu tun hat und zu Recht den Kinderschutz auf den Plan ruft. 

Oder aber Eltern verstehen sich als die vollkommen neutralen Verfechter*innen der Rechte und Entscheidungen ihrer Kinder. Jeder Hauch von eigener Erfahrung, Wünschen oder auch Unsicherheiten bringt sie in Gefahr, für Eltern der ersten Kategorie gehalten zu werden. Für Eltern, die ihren Kindern rücksichtslos die eigene Weltsicht überstülpen. Oder für Eltern, die einfach komplett einen an der Waffel haben.

Tatsächlich erlebe ich es als schwierig, mich im deutschsprachigen Raum zum Thema Freilernen zu äußern, ohne in eine der beiden Rollen zu fallen – bzw. mich immer wieder davon abgrenzen zu wollen. Denn in keiner von beiden fühle ich mich zuhause. 

Und deshalb will ich daran erinnern: 

Es gibt einen Bereich dazwischen. 

Einen, wo Kinder selbstbestimmte Entscheidungen treffen können – und Eltern Menschen mit eigenen Träumen bleiben. Wo Freilerner*innen in ein vielfältiges soziales Netz eingebunden sind. Wo Eltern offen mit Zweifeln umgehen und gleichzeitig eine Haltung haben können, die ernstgenommen und wertgeschätzt wird. 

Einen Bereich, in dem wir uns für das Selbstbestimmungsrecht unserer Kinder einsetzen, ohne ihre Abhängigkeit von uns zu leugnen. In dem wir mit diesem Dilemma so verantwortungsvoll wie möglich umgehen, ohne die perfekte Lösung finden zu müssen. Weil es keine perfekte Lösung gibt. Und weil das ok ist. 

Irland hat eine genauso wenig perfekte, aber in meinen Augen deutlich menschenfreundlichere Lösung gefunden: 

Laut Artikel 42 der irischen Verfassung gelten „das Recht und die Pflicht von Eltern, im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die religiöse, moralische, intellektuelle, körperliche und soziale Bildung ihrer Kinder zu sorgen“. Dabei steht ihnen frei, diese Bildung an einer staatlich anerkannten Schule, Privatschule oder Zuhause anzubieten. Gleichzeitig muss der Staat als „Hüter des Gemeinwohls“ (und Kindeswohls) sicherstellen, dass die Erziehung und Bildung jedes Kindes in allen Bereichen einem gewissen Mindestmaß entspricht. 

Was auch immer du von der irischen Gesetzgebung hältst – in jedem Fall spricht daraus ein größeres Vertrauen gegenüber Eltern, ihren Fähigkeiten und Absichten. 

Natürlich besteht die Gefahr, dass wenige Eltern dieses Vertrauen ausnutzen, um ihre elterliche Macht zu missbrauchen und ihr Kind gegen seinen Willen von der Schule fernzuhalten (auch wenn der Staat versucht, diese Gefahr durch ein Assessment-System zu reduzieren). Gleichzeitig gibt es auch die große Chance, dass viele junge Menschen – von ihren Eltern unterstützt – tatsächlich selbstbestimmte Bildung erleben und genießen können.

Das Vertrauen und die rechtliche Sicherheit, die ich als Mutter hier erhalte, geben mir einen Platz in der Gesellschaft und entlasten mich von der Gefahr, für eine in völkische Esoterik abgerutschte Reichsbürgermutter gehalten zu werden. (Lies dazu gerne Alle aussteigen? und Bin ich systemkritisch? oder hör meine Podcastfolge Soziale Teilhabe ohne Schulbesuch)

Es gibt mir die Möglichkeit, offen mit meinen Unsicherheiten und meiner Verletzlichkeit umzugehen. 

Zu sagen, dass wir als Familie entscheiden, weiterhin schulfrei zu leben – auch, wenn wir keine heile Welt herstellen können. Auch, wenn ich unsicher bin, ob diese Bildungsform unseren Kindern in allen Belangen „reicht“. Es gibt mir die Möglichkeit, mich offen mit meinen Kindern, meinem Partner und anderen Menschen über diese Zweifel auszutauschen, zu reflektieren und den Weg immer wieder anzupassen. 

Und auch wenn ich überzeugt bin, dass die Entscheidung für oder gegen Schulbesuch grundsätzlich bei unseren Kindern liegt – ich muss nicht verstecken, dass unser jetziges Leben AUCH eine Entscheidung für uns Eltern war.

Abgesehen davon, dass Irland mein persönlicher Kindheitstraum ist und wir uns in der irischen Gesellschaft aktuell wohler fühlen:

Auch wir Eltern wollten ohne die Pflicht zum Schulbesuch leben. 

Wäre unser Sohn jeden Tag freiwillig und freudvoll in die Schule gegangen, wären wir vielleicht in Deutschland geblieben und hätten uns mit Reisen während der Ferien begnügt. Oder wir wären trotzdem nach Irland gezogen und unser Sohn würde hier zur Schule gehen. 

Aber mein sich wehrendes Kind mit Manipulation und Druck in die Schule bringen? Ihm noch 10 Jahre lang erzählen, er müsse da durch – obwohl ich weiß, dass es anders geht? Jeden Tag die gleichen Kämpfe ausfechten, die gar nicht unsere sind und unser Leben trotzdem vergiften? 

Das wollte ich nicht nur meinem Kind ersparen. So will ich selbst meine eigene wertvolle Lebenszeit nicht verbringen. Dafür bin ich nicht auf dieser Welt. 

Deshalb denke ich: Auch Eltern haben das Recht auf eine Lebensgestaltung, die sie nicht verzweifeln und verbittern lässt. Auf eine sichere und friedvolle Beziehung zu ihren Kindern. Sie haben das Recht, gemäß ihrer Werte und moralischen Vorstellungen zu handeln und keine Gewalt ausüben zu müssen. Eltern und Kinder haben das Recht auf ein glückliches, selbstbestimmtes Leben.  

Und wenn Schulpflicht bedeutet, dass Eltern verpflichtet sind, ihre Kinder gewaltvoll der Schule zuzuführen – dann ist Bildungsfreiheit sowohl ein Kinder- als auch ein Elternrecht. 

…und weil dieses Thema extrem vielschichtig ist und ich weder die absolute Wahrheit gefunden habe noch sonst irgendwie erleuchtet bin, interessiert mich vor allem:

Was denkst und fühlst du dazu? Kannst du mit meinen Gedanken etwas anfangen?

Schreib mir dazu gern einen Kommentar unter den Text oder eine Email. Ich freu mich sehr über deine Rückmeldung!

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