Seit ich begonnen habe, meine eigenen Beziehungs- und Alltagsstrukturen zu hinterfragen, begegne ich immer wieder Menschen und Gruppen, die sich als systemkritisch bezeichnen. Es wäre naheliegend, das Gleiche zu tun, denn ich kritisiere ja ständig Systeme – das Schulsystem zum Beispiel oder unser gesellschaftliches Konzept von Mutterschaft (ist das überhaupt ein System?).
Trotzdem verwende ich diesen Begriff nicht – oder nur sehr selten. Dieser Artikel wird ein Versuch herauszufinden, warum.
Das Wort Systemkritik löst in mir Unbehagen aus.
Ich verbinde damit eine Haltung, in der ich mich nicht zuhause fühle. Einen düsteren, eindimensionalen Blick auf die Welt, den ich nur in Momenten teile, in denen ich mich extrem ausgeliefert und ohnmächtig fühle – und selbst dann spüre ich, dass etwas faul ist.
In meiner Erfahrung ist die Erkenntnis, dass Strukturen uns schaden, die wir lange für normal und notwendig hielten, mit Wut, Trauer und großer Verunsicherung verbunden. In solchen Phasen haben wir ein starkes Bedürfnis nach Verbindung zu Menschen, die uns beruhigen: „Wir teilen deine Sicht, du bist ok und bei uns sicher.“
Das ist nicht nur nachvollziehbar, sondern grundsätzlich auch gesund. Kontakt zu freundlichen, wohlwollenden Menschen ist eine unserer wichtigsten Ressourcen – besonders, wenn wir Krisen und Umbrüche erleben. Für mich lag darin gleichzeitig eine neue Herausforderung:
In meinem Versuch, aus einem System auszusteigen, schlitterte ich in neue Systeme, in denen ich mich genauso unwohl fühlte.
Ein gutes Beispiel war der Plan, für unsere Kinder statt einer staatlichen Schule eine Waldorfschule zu wählen. Wenn ich ehrlich bin, spürte ich schon nach wenigen Wochen, dass wir in der anthroposophischen Gemeinschaft absolut fehl am Platz waren.
Trotzdem versuchte ich, es mir noch eine Weile schön zu reden. Denn die Angst, ohne eine Gruppe dazustehen, war größer als der Wunsch, ich selbst zu sein. Und wieder begann ich, meine Energie und Lebenszeit in das Aushalten von Kämpfen und beklemmenden Situationen zu stecken, deren Sinn ich im Grunde nicht verstand – weil ich innerlich davon entfremdet war.
Wieder wurde ich Teil eines für mich ungesunden Systems. Diesmal einem, das sich selbst systemkritisch nannte.
Mich der Systemkritik zu verschreiben, ließ mich für einen Moment erleichtert und mit anderen Menschen verbunden fühlen, führte aber erneut weg von mir selbst. Es war entlastend, meine Wut auf das Bildungssystem nicht mehr rechtfertigen zu müssen. Gleichzeitig schluckte ich all die hinterhergeschleuderten Verschwörungserzählungen, die immer auf irgendein undefiniertes „böses Anderes“ abzielten – aber nichts mit meiner Weltsicht und meinen Werten zu tun hatten.
Mir blieb nur eins: Mich selbst kennenlernen und herausfinden, was ich eigentlich wollte.
Das fühlt sich nicht immer so feurig an wie ein knackiger, systemkritischer Slogan. Es bedeutet auch: Erkennen, dass ich Teil des Systems bin, was mich so ankotzt. Dass ich vieles davon tief verinnerlicht habe und nicht mit einem Fingerschnippen loswerde. Dass ich unsicher und tapsig unterwegs bin auf diesem neu eingeschlagenen Weg. Dass ich noch keine Antworten auf all die 1000 Fragen habe, die sich auf einmal stellen.
Ich weiß, was sich doof anfühlt – aber was fühlt sich gut an? Was sind eigentlich meine Werte? Und wie kann ich sie leben?
Wenn ich dabei etwas gelernt habe, ist es, offen zu bleiben für innere Vielfalt und Bewegung. Nicht all meine Energie in die Verachtung der bösen Anderen zu stecken, sondern mich zu fragen, was ich selbst mit dem Ganzen zu tun habe und was mein Schmerz mir wirklich sagen will.
Ich habe gelernt, innere Unentschlossenheit auszuhalten – und gleichzeitig eine klare eigene Haltung zu entwickeln. Zumindest für diesen Moment. Das klingt kompliziert. Und ja, das ist es manchmal auch. Und manchmal ist es ganz einfach.
Ich bin auf dieser Welt, um meinen eigenen Weg zu finden. Und das niemals alleine.
Als Teil einer Paarbeziehung, Familie, Nachbarschaft, Musikgruppe, Gemeinde und Gesellschaft gehe ich kleine und große Wegabschnitte gemeinsam mit anderen Menschen. Ich bin immer wieder Teil von Systemen, trage sie in mir, stütze sie, bereichere sie, kritisiere sie, verändere sie.
Ich frage mich weniger, ob ich aus einem System aussteigen will, sondern welche kleinen Momente und Erfahrungen ich in meinem Leben haben will und welche nicht. Und ja, manchmal führt das dazu, dass ich Systeme verlasse.
Systemkritik mag für manche genau das bezeichnen, was ich gerade beschrieben habe. Für mich fühlt es sich falsch an.
Vielleicht, weil ich zu oft erlebt habe, dass der Begriff aus einer Haltung heraus benutzt wird, die nicht ehrlich und verbunden mit sich selbst ist. Eine Haltung, die verlockend riecht – weil sie uns anbietet, an uns selbst vorbei zu laufen. Und dabei verpassen wir das Beste.