Eine beliebte Kritik an selbstbestimmten Bildungswegen ist:
„Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, lernen sie, dass sich alles nur um sie dreht. Sie machen nur, worauf sie Lust haben und lernen keine Herausforderungen zu meistern. Das macht sie zu faulen, rücksichtslosen, selbstbezogenen Leuten, die bei der kleinsten Schwierigkeit aufgeben und sich nicht in die Gesellschaft einfügen können.“
Kurz:
„Kinder müssen in der Schule lernen, dass das Leben kein Ponyhof ist.“
Dieser Gedanke ist im deutschsprachigen Raum so weit verbreitet, dass die meisten Menschen ihn ohne konstruktiv-kritische Prüfung einfach stur wiederholen. Dabei liegen ihm eine Menge ungeklärte Vorannahmen zugrunde – und genau die möchte ich hier in Ruhe auseinandernehmen und hinterfragen.
Annahme 1: Kinder bewältigen in ihrem Alltag keine Schwierigkeiten, wenn sie nicht zur Schule gehen.
Vermutlich gehen die Kritiker*innen in diesem Fall davon aus, dass Eltern es ihren Kindern so schön und leicht wie möglich machen wollen.
Andernfalls kippt die Kritik nämlich oft ins Gegenteil – dann wird davon ausgegangen, dass unbeschulte Kinder viel zu viele Schwierigkeiten tragen müssen, weil sie vernachlässigt, isoliert oder indoktriniert würden. (Dass es noch etwas anderes gibt als ungesundes Verhätscheln oder elterlicher Gewalt, wird dabei gerne ausgeblendet.)
Aber nehmen wir mal an, die familiären Beziehungen sind intakt und den Eltern liegt das Wohl und Glück ihrer Kinder am Herzen: Stimmt die Annahme, dass diese jungen Menschen ein „Leben in Watte“ führen?
Müssen unbeschulte Kinder keine Herausforderungen meistern?
Bleiben wir mal auf dem Ponyhof – denn das ist ein perfektes Beispiel dafür, dass es auch außerhalb von Schule genug Dinge gibt, die wir tun oder aushalten müssen, auch wenn sie nicht immer angenehm sind.
Ob Ponys, Hunde, oder Hamster: Haustiere brauchen Futter, Pflege und eine möglichst artgerechte Umgebung. Sie sind darauf angewiesen, dass wir Menschen uns ausdauernd und regelmäßig um sie kümmern, egal ob wir gerade Lust dazu haben oder nicht.
Selbst, wenn Eltern diese Arbeit weitgehend übernehmen: Spätestens, wenn ein geliebtes Tier krank wird und stirbt, sind Kinder mit Verlust und Trauer konfrontiert – eine Herausforderung, die für niemanden leicht zu meistern ist.
Ein anderes Beispiel betrifft viele deutsche Familien, die schulfrei leben wollen: die Auswanderung.
Der Umzug in ein anderes Land bedeutet, mit unzähligen Herausforderungen umgehen zu müssen.
Der Abschied von der vertrauten Umgebung, sich in einer neuen Sprache verständigen, Freundschaften schließen – allein das Einkaufen kann in den ersten Monaten nervenaufreibend sein!
Sowohl in Irland als auch Ägypten haben wir einige Stromausfälle erlebt, die teilweise mehrere Tage andauerten. Wenn weder Heizung, Licht noch Internet funktionieren – dann machen auch die Kinder nicht gerade das, worauf sie am meisten Lust hätten.
Statt bis abends um zehn heißen Kakao zu trinken und Filme anzuschauen, putzen sie sich um 6 Uhr die Zähne (weil es noch Tageslicht gibt), kuscheln sich um 7 Uhr ins Bett (weil es dort am wärmsten ist) und erzählen sich Geschichten.
Ist das nicht eine prima Gelegenheit, mit unvorhergesehenen Schwierigkeiten umzugehen, Frust auszuhalten und kreative Lösungen zu entwickeln?
Aber auch ohne Haustiere oder Auswanderung bringt der Alltag unbeschulter junger Menschen genug Probleme mit sich.
Das Fahrrad geht kaputt. Der Fußball fliegt über die Hecke und zerstört ein Blumenbeet. Die Nachbarn sind wütend. Ein Sturm zerpflückt das in mühsamer Arbeit aufgebaute Baumhaus. Die beste Freundin zieht weg. Die Spielwiese liegt voller Müll und Hundekacke.
Junge Menschen werden krank. Drei Tage Fieber statt Geburtstagsparty. Geliebte Menschen werden krank. Vielleicht sogar schwer. Immer mehr Leute reden von Krieg, Wirtschafts- und Klimakrise. Stürme werden häufiger. Mama und Papa haben Sorgen, weil die Miete steigt.
Bevor ich mich jetzt in ein Weltuntergangsszenario hineinschreibe, können wir abhaken: Dass junge Menschen ohne Schule ein sorgenfreies Leben in Watte führen, ist Blödsinn.
Annahme 2: Nur Schulstress bereitet auf’s Leben vor.
Wenn ich von jungen Menschen berichte, die unter schulischen Strukturen leiden, wird mir oft vorgehalten, dass Kinder gerade diese schulspezifischen Probleme bräuchten. Leistungsdruck, Hänseleien (ein beschönigendes Wort für Mobbing), volle Terminkalender – all das sei nötig, um im späteren Leben mit Stress und Herausforderungen umgehen zum können.
Dazu hat eine Kommentatorin unter meinem Interview bei Stadt, Land, Mama ein Gegenargument gebracht, dass den Denkfehler wunderbar zusammenfasst:
Wenn wir annehmen, dass nur Schulstress junge Menschen „lebenstauglich“ macht, wäre die logische Schlussfolgerung: In der Schule gibt es Schwierigkeiten, die es außerhalb von Schule nicht gibt.
Das stimmt sogar in Teilen. Beispielsweise werden in kaum einem anderen sozialen Setting 30 willkürlich zusammengesetzte Gleichaltrige über so einen langen Zeitraum unfreiwillig miteinander in Konkurrenz gesetzt. Daraus entstehen häufig belastende soziale Dynamiken wie Mobbing, denen Schüler*innen in besonderer Härte ausgesetzt sind (kündigen wie einen Job geht ja nicht).
Gleichzeitig nimmt sich das Argument die eigene Grundlage, denn:
Warum sollten Kinder lernen, mit Strukturen klarzukommen, die es außerhalb von Schule gar nicht gibt?
Das ist nun wirklich komplett unsinnig. Wir sperren ja auch keinen Hamster in einen extra kleinen Käfig, damit er später auf dem Feld besonders gut klar kommt. Im Gegenteil, der Hamster würde seine erlernten (oder verlernten) Verhaltensweisen mit auf’s Feld nehmen und vermutlich früh sterben.
Manche werden hier einwerfen, das aber gerade die Prinzipien unserer Leistungsgesellschaft (wie Wettbewerb und Prüfungssituationen) in der späteren Berufswelt gebraucht werden.
Dieses Thema ist so komplex, dass es einen eigenen Artikel verdient. Hier nur ein paar Gedanken:
1) Leistung und Erfolg können sowohl mit positiven als auch mit negativen Erfahrungen verknüpft sein. (Ich kann etwas schaffen! oder aber: Ich bin nicht gut genug.) In der Schule passiert für viele Menschen leider letzteres: Leistung wird mit Druck und Angst verknüpft – was sowohl das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit als auch unsere Erfolgschancen stark einschränkt. (Mehr dazu später.)
2) Was in der Schule noch häufig vermittelt wird, sind Gehorsam gegenüber Autoritäten, Anpassung an feste Strukturen, Konkurrenzdenken, Notenorientierung und das Reproduzieren von Wissen. In der zukünftigen Berufswelt brauchen wir aber Eigenverantwortung, Kreativität, Flexibilität, Problemlösung, Teamarbeit und emotionale Intelligenz.
Aus diesem Grund öffnen sich selbst große Unternehmen wie Google inzwischen für Bewerber*innen mit unkonventionellen Bildungswegen (auch Homeschoolern) – weil ihnen praktische Fähigkeiten und Kompetenzen wichtiger sind als formale Bildungsabschlüsse.
3) Tatsächlich erkennen immer mehr Unternehmen, dass Wohlbefinden und emotionale Sicherheit sich positiv auf Kreativität und Leistung auswirken. Dass aber viele Betriebe immernoch mit Druck und Kontrolle arbeiten, könnte schlicht ein Produkt dessen sein, dass die meisten Menschen in der Schule an diese Strukturen gewöhnt wurden – und sie für normal halten.
4) Ähnlich beim Thema Mobbing, das in der Berufswelt ein ernsthaftes Problem ist: Vielleicht reproduzieren Erwachsene dort einfach das soziale Verhalten, das sie in der Schule erfahren und gelernt haben.
Das wäre dann der ultimative Zirkelschluss: Wir bereiten junge Menschen in der Schule auf gesellschaftliche Schwierigkeiten vor, die nur deshalb bestehen, weil alle in der Schule dieses „Training“ durchlaufen haben.
Mal ehrlich: Wäre es nicht dringend an der Zeit, damit aufzuhören? Haben wir nicht genug andere Probleme (den Klimawandel z.B.), als uns das Leben mit sich selbst wiederholendem Leid noch schwerer zu machen?
Und wenn es in unserem Leben andere Probleme gibt – weshalb sollten wir den Umgang damit nur in der Schule lernen können?
Ich habe oben schon beschrieben, dass junge Menschen im Alltag auf unterschiedliche Schwierigkeiten stoßen, mit denen sie umgehen müssen. Auch ohne Schulbesuch.
Vielleicht sogar gerade außerhalb von Schule – weil Schule oft ein künstlicher Rahmen ist, der die „echten“ Probleme menschlichen Alltags eher ausklammert. (Ich hab in der Schule nix über Steuererklärungen gelernt.)
Und generell finde ich die Vorstellung befremdlich, dass junge Menschen auf ihr Leben vorbereitet werden müssten.
Beginnt dieses Leben, auf das wir sie vorbereiten wollen, erst nach dem Schulabschluss? Haben sie nicht hier und jetzt ein Leben, das lebenswert sein sollte? Ein Leben, in dem sie an genau den Herausforderungen wachsen dürfen, die tatsächlich relevant für sie sind?
Annahme 3: Abhärtung führt zu Resilienz.
Hinter der Ponyhof-Theorie steht im Grunde ein tief verankerter Glaube daran, dass Härte junge Menschen fit macht. Wie tägliches Krafttraining die Muskeln aufbaut, so sollen täglicher Druck und Stress Kinder widerstandsfähig machen.
Was dabei häufig nicht ausgesprochen, aber trotzdem praktiziert wird, ist ein gleichzeitiger Entzug von Zuwendung und Mitgefühl. („Das Leben ist eben kein Ponyhof!“)
Das sind im Kern die Ideale der Nazi-Erziehung, die noch immer hartnäckig in unseren Köpfen herumgeistern. (Zu diesem Thema empfehle ich ein aufschlussreiches Buch von Sigrid Chamberlain.)
Aus der aktuellen Entwicklungsforschung und Neurobiologie wissen wir aber:
Resilienz entsteht nicht durch Abhärtung, sondern durch sichere Bindungen und erlebte Selbstwirksamkeit.
Verlässliche, vertrauensvolle und wertschätzende Beziehungen sind der am besten belegte Schutzfaktor für die Entwicklung von Resilienz bei jungen Menschen.
Gleich danach steht das Erleben von Autonomie, also die Möglichkeit, aktiv auf Beziehungen und Situationen einwirken zu können.
Wenn wir Kinder nun künstlichen Stressoren und sozialem Druck aussetzen (wie z.B. schulischen Bewertungssystemen und Konkurrenz in altershomogenen Klassenverbänden) und das Ganze mit einem faktischen Zwang (der Schulpflicht) belegen – dann machen wir einen entscheidenden Fehler:
Wir zerstören ihr Vertrauen in uns – und damit ihre wichtigste Ressource, Resilienz zu entwickeln.
Bevor ich hier falsch verstanden werde: Natürlich kann es wertschätzende und bestärkende Beziehungen zu Lehrkräften oder Freund*innen innerhalb von Schule geben. Und für manche Menschen war und ist das enorm wichtig.
Aber die grundlegenden Strukuren unseres aktuellen Schulsystems sind noch immer stark an autoritären Hierarchien, Leistungsbewertung und Selektion ausgerichtet.
Und genau das führt bei vielen zu der Art von chronischem Stress, den viele für notwendig und abhärtend halten – in der Realität die Resilienz junger Menschen aber schwächen.
Ich bin dafür ein gutes Beispiel:
Nach allem, was von Schule erwartet wird, hätte ich nach 13 Jahren Grundschule und Gymnasium das blühende Leben sein sollen. Selbstbewusst und voller Tatendrang. Das krasse Gegenteil war der Fall.
Mein Nervensystem war dauerhaft gestresst, mein Selbstvertrauen zu Staub zerfallen. Ich hatte chronische Schmerzen, jede kleine Herausforderung schwächte mich zusätzlich. Phasenweise hatte ich Mühe, nur meinen Alltag zu bewältigen. Von Widerstandskraft war wenig zu spüren – und es dauerte Jahre, bis ich wieder so etwas wie Lebensfreude oder ein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten empfand.
Mit 19 Jahren und einem Einser-Abitur in der Hand war ich ein chronisch krankes, verängstigtes Wrack.
Was bleibt also von der guten alten Ponyhof-Theorie?
Junge Menschen brauchen keine künstlich auferlegten Probleme zum Durchbeißen. Das Leben ist auch so schwer genug. Wie gesagt: Fahrräder müssen repariert werden. Handys gehen verloren. Haustiere sterben. Oder geliebte Menschen.
Stürme fegen durch unser Leben – ob wir wollen oder nicht. Mit und ohne Schule.
Und was junge Menschen dann brauchen, sind Bezugspersonen, denen sie sich anvertrauen können. Die ihren Schmerz ernst nehmen, mitfühlen und Hoffnung geben.
Wenn es gut läuft, gibt es solche Beziehungen in der Schule.